Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Tokio
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Professor Heyde kommt in Würzburg in Untersuchungshaft. Das Pressefoto war für Gerhard Richter Vorlage für ein Gemälde.
Quelle: Pressearchiv Bernd Müller, Böblingen

Zwei seltene Fotografien Heydes, aus dem Privatbesitz von Ernst Klee. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Netzwerke des Schweigens

Die Würzburg-Bezüge in der Ausstellung »Tödliche Medizin« im Deutschen Hygiene-Museum Dresden.

von Clemens Tangerding, Dresden

Seit kurzem laufen die Würzburger auf ihren Wegen durch ihre Stadt an golden funkelnden Flächen vorbei, die buchstäblich auf ihrem Weg liegen. Im Sommer dieses Jahres wurden die sogenannten »Stolpersteine« [ein Kunstprojekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig; Anm. d. Red.] in Grund und Boden der Stadt eingelassen. Die kleinen quadratischen Messingflächen erinnern nun auch hier als Miniaturgedenkstätten und winzige Grabsteine an deportierte und ermordete Würzburger Juden, Sinti und Roma. Die Opfer der Nationalsozialisten erhalten mit dem Namen, der auf den Stolpersteinen eingraviert ist, einen Teil ihrer Identität zurück und werden ganz real wieder in der Stadt, in ihrer einstigen Heimatstadt, verortet. Es ist eine Verortung in zweifacher Hinsicht, welche die goldglänzenden Steine leisten. Erstens bestimmen sie den Würzburger Wohnort des Opfers, seine Nachbarschaft, sein Viertel. Damit zeigen sie jedoch zweitens den Ort eines Verbrechens an, der mit dem Wohnort identisch ist. Schließlich begann jede Deportation zu Hause.

Eine Verortung von Nazi-Verbrechen in Würzburg erlebte auch der Besucher der Einweihungsfeier der neuen Operationsabteilung der Frauenklinik. Der Direktor der Gynäkologie an der Uniklinik, Johannes Dietl, erinnerte in seiner Festrede kurz an die Geschichte des nun verlassenen Gebäudes. 1934 erbaut, seien in dem Haus 1000 Frauen und Männer zur Abtreibung und Sterilisation gezwungen worden. Leider blieb die Verortung jedoch im Vagen. Wer die Männer zur Sterilisation zwang, wer den Frauen ihre ungeborenen Kinder wegoperierte, blieb der Festgemeinde leider unbekannt. Unangenehme Dinge geschahen, wie bei Festreden üblich, nur im Passiv. Dabei hat Dietl selbst zu diesem Thema veröffentlicht (siehe dazu auch den Aufsatz von Robert Flade im Mainfränkischen Jahrbuch 2006). Endlich sei, so Dietl, »dieser Ort menschenverachtender Eingriffe verschwunden«. Doch ist mit dem Ort des Verbrechens nicht auch ein Erinnerungsort verschwunden? Ist mit dem Ende der Nutzung der alten Gynäkologiegebäude nicht auch die Verortung eines Tatortes des Nationalsozialismus gefährdet? Die Beobachtung, daß nur eine verschwindend kleine Minderheit der Würzburger weiß, an welchen Orten ihrer Stadt welche Verbrechen und von wem begangen wurden, bedarf keiner Belege. Warum sich das nicht groß ändert, die Stolperstein-Orte ausgenommen, liegt auf der Hand: Es fehlt die Verortung. Denn Verbrechensorte sind nicht durch ihr bloßes Dasein, sondern erst durch ihre Verortung erkennbar.

Zur Zeit läuft eine vielbeachtete Ausstellung, in der die Namen und Orte der Verbrechen und das Denken ihrer Täter beim Namen genannt werden. In der Ausstellung »Tödliche Medizin – Rassenwahn im Nationalsozialismus« im Hygienemuseum Dresden wird der Besucher in einer außerordentlich gut aufbereiteten Ausstellung über die verschiedenen Arten verbrecherischer Anwendung von Medizin im Nationalsozialismus unterrichtet. Dabei spielen Namen und Orte eine wesentliche Rolle. Dies ist eine der uneingeschränkt positiven und wichtigen Seiten dieser Ausstellung. Im Hygienemuseum erfährt der Besucher auch, in welchem Rahmen und, ganz buchstäblich, mit welchem Recht in der Würzburger gynäkologischen Klinik Frauen zwangssterilisiert und zur Abtreibung ihrer Kinder gezwungen wurden. Noch im Jahr der Machtergreifung Hitlers 1933 und ein Jahr vor dem Bau der gynäkologischen Klinik in Würzburg erließ das NS-Regime die »erste große rassenhygienische Maßnahme« (Pressetext). An der Formulierung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« waren auch Mediziner beteiligt.

In welcher Form wurde das Gesetz jedoch angewandt? Typisch für die systematisch organisierten Verbrechen des Nationalsozialismus, leitete in jedem Einzelfall ein Gutachten das Verfahren ein. Auch Würzburger Ärzte sonderten per Bericht Frauen aus, die eines von neun im Gesetz festgeschriebenen »Leiden« aufwiesen. Diese Leiden konnten sowohl psychischer wie auch rein somatischer Natur sein: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, manische Depression, erbliche Epilepsie, Huntington-Krankheit (eine vererbbare Nervenkrankheit), genetisch bedingte Blind- und Taubheit, schwere angeborene körperliche Missbildung, chronischer Alkoholismus. Entscheidend war das Ziel, dem Titel des Gesetzes, der »Verhütung erbkranken Nachwuchses« zur Realisierung zu verhelfen. Wer nach Ansicht der Erben des Hippokrates unter einer der genannten Krankheiten litt, durfte sich nicht fortpflanzen.

Dieses Gesetz fand selbstverständlich nur bei »Deutschen«, damals ein Gegenbegriff zu »den Juden«, seine Anwendung. Juden dagegen wurden nicht mit einer medizinischen Begründung ermordet, sondern aus den bekannten rassischen Diskursen heraus. Dementsprechend beruhte die Ermordung der Juden nicht auf medizinischen Erwägungen wie im Fall der »Erbkranken«, sondern auf Diskriminierung.

Frauen, die nach Aussage eines Gutachtens eines der Leiden vorwiesen, wurden zwangssterilisert oder mußten die Kinder in ihrem Mutterleib abtreiben lassen. Da der Eingriff der Zwangssterilisation den Medizinern offenbar unbekannt war, wurde zum Gesetz ein entsprechendes Operationshandbuch veröffentlicht und an die Krankenhäuser geschickt. Wahrscheinlich lag also auch in der Würzburger Gynäkologie das aufgeschlagene Buch mit der Schautafel im OP, das bildreich die verschiedenen Stufen einer Sterilisation erläutert. Der entscheidende Schritt ist die Durchtrennung des Eileiters bei der Frau, beim Mann die Entfernung eines Teiles des Samenleiters. Nicht nur die Veröffentlichung des Handbuchs spricht für die Unerfahrenheit der Mediziner bei der Sterilisation, sondern auch, daß in Folge dieses Eingriffs 5000 Frauen in Deutschland starben.

Das Gesetz entstand in enger gedanklicher Nähe zur Vorstellung vom Gnadentod, der sogenannten »Euthanasie«. Einer der bedeutendsten Exekutoren der Euthanasieprogramme war Hochschullehrer in Würzburg. Seine Dissertation von 1925 und die Habilitationsschrift von 1932 sind auch heute noch in der Universitätsbibliothek am Hubland zugänglich, ein paar Klicke im OPAC genügen. Der Nervenarzt Werner Heyde, der seit Kriegsende unter dem Namen »Dr. Fritz Sawade« lebte, war Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Würzburg. Heydes Professur beruhte auf seiner politischen Karriere, nicht auf wissenschaftlicher Leistung. Doch dafür zeigten selbst die Kollegen Verständnis. Der Direktor der Universitäts-Nervenklinik, Prof. Dr. Reichhardt, befand es 1939 für »erklärlich und entschuldbar«, daß Heyde so wenig veröffentlichte. Dies bringe die »ehrenvolle Berufung und Tätigkeit bei der SS« und die Tätigkeit am Geheimen Staatspolizeiamt nun einmal mit sich.
Da er Mitte der 1950er Jahre denunziert worden war, entging er 1959 durch seine Meldung bei den Behörden nur der sicheren Gefangennahme durch die Polizei. In der Würzburger Ottostraße wurde er in Untersuchungshaft genommen. Diese Szene ist in der Kunstwelt durch ein Bild von Gerhard Richter berühmt geworden, der ein Pressefoto als Vorlage benutzte. Bevor der Prozeß gegen Heyde am Landgericht Limburg eröffnet werde konnte, erhängte sich Heyde 1964 in seiner Zelle im Gefängnis Butzbach an seinem Hosengürtel.

Der Würzburger Arzt Werner Heyde praktizierte mitten in der Stadt. Die Psychiatrie in der Füchsleinstraße 15, wo sie sich immer noch befindet, war sein Arbeitsplatz. Bis 1932 wohnte er auch in der Klinik. Seine Würzburger Wohnorte der Jahre bis Kriegsende spiegeln eindrücklich den cursus honorum des Mediziners in der Würzburger Nazigesellschaft wider. Aus der Mergentheimer Straße 54 zog er 1934 in das Haus Nr. 17 c im Leutfresserweg, 1938 an die benachbarte Kleßbergsteige 2. Dort wohnte er bis Kriegsende. In Würzburg hielt er sich jedoch ab spätestens 1939 nur noch selten auf. Vielleicht ließ er deshalb, um die häufige Abwesenheit von seinem Würzburger Arbeitsplatz zu kaschieren, ab 1938 seine Sprechstundenzeiten im Würzburger Adreßbuch veröffentlichen.

Heyde war ab 1939 Mitglied, ab 1940 sogar medizinischer Leiter der sogenannten »Aktion T 4«, von seinen sonstigern Ämtern einmal ganz zu schweigen. Die Bezeichnung des Geheimprogramms, auf das die Dresdener Ausstellung ausführlich eingeht, verweist auf den Sitz des Projektes in der Berliner Tiergartenstraße 4. »T 4« bedeutete die systematische rechtliche Ausformung der Euthanasie-Idee. Auch hier bestand der erste Schritt des Verbrechens in einem Gutachten. Erwachsene Patienten in kirchlichen, privaten und staatlichen Einrichtungen sollten erfaßt und getötet werden, da sie als unproduktiv eingestuft wurden. Dieses Urteil traf zwischen Januar 1940 und August 1941 mehr als 70 000 Männer und Frauen. Es ist in einer CSU-geführten Bischofsstadt ganz besonders erwähnenswert, daß sich auch kirchliche Einrichtungen systematisch an der Umsetzung des T4-Programms beteiligten. Welche Einrichtungen das in Würzburg betrifft, scheint jedoch noch völlig unerforscht zu sein. Auch hier müssen die Orte erst noch mit den entsprechenden Verortungen bekannt gemacht und so zu Erinnerungsorten umgemünzt werden – statt sich am Schweigen zu beteiligen, denn das ist stets die Alternative. Die Angestellten in den kirchlichen Heimen und Anstalten verfaßten, wie die weltlichen auch, Gutachten oder gaben Hinweise, in denen ihre eigenen Patienten als unproduktiv eingestuft und somit dem Tötungsprogramm überantwortet wurden.

Anfangs wurden die als unwert eingestuften Menschen mit Kohlenmonoxid in Gaskammern ermordet. Dafür waren in Deutschland und Österreich sechs »Euthanasie«- Zentren eingerichtet worden. Nach »zunehmendem öffentlichem Aufsehen und Protesten gegen diese Tötungsmaßnahmen« (Pressetext) wurden 1941 zwar die Vergasungen eingestellt, die Tötungen jedoch mit anderen Mitteln weitergeführt. Die Ärzte und das Pflegepersonal im gesamten Reichsgebiet entzogen ihren Patienten systematisch die Nahrung, verabreichten völlig überhöhte Dosen an Schlafmitteln und anderen Medikamenten.

Diese Methoden waren einigen Opfern durchaus bewußt, wie etwa der Brief von Ernst P. an seine Mutter zeigt: »Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann«. Ernst P. schrieb den Brief aus der Heilanstalt Weilmünster an seine Mutter. Kurze Zeit später verlegten die zuständigen Behörden den Mann nach Hadamar. Dort starb er durch die genannten Gewalteinwirkungen. Vielleicht war es der Würzburger Werner Heyde, der die Aushungerung von Ernst P. oder die Vergiftung durch Medikamente anordnete. Denn die Anklageschrift gegen Heyde benennt neben der Leitung des »T 4«-Programms auch Tötungen in der Heilanstalt Hadamar, wo den Patienten im übrigen fast jeder Kontakt zur Außenwelt verwehrt wurde. Auch der Brief von Ernst P. wurde abgefangen und erreichte seine Mutter nie.

Der Fall Heyde beleuchtet jedoch nicht Heyde allein. Schließlich hatte Heyde Freunde, Bekannte, Kollegen, die nach Ende des Krieges ein Netzwerk des Schweigens bildeten – und einen verständnisvollen Anwalt. »Dr. Schindler«, wie er in den entsprechenden Zeitungsartikeln heißt, hielt bei der Verhaftung seines Mandanten Heyde 1959 eine Stegreif-Pressekonferenz vor dem Gerichtsgebäude in der Ottostraße ab. Ein Redakteur des Fränkischen Volksblattes war zugegen und notierte die Äußerungen Schindlers, der mit einer Zigarette vor den Journalisten stand: Erstens fühle sein Mandant sich unschuldig. Zweitens »haben wir den Euthanasie-Komplex immer wieder miteinander besprochen, der seit 200 Jahren umstritten ist«. ¶


Die Ausstellung »Tödliche Medizin« im Dresdener Hygienemuseum läuft noch bis zum 24. Juni 2007. Die äußerst hilfsbereite und kompetente Projektleiterin der Ausstellung, Antje Uhlig, hat jüngst noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Besuche von Schulklassen aus ganz Deutschland bezuschußt werden können.
Mehr Informationen unter www.dhmd.de