Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Tokio
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Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Dorette Riedel in der BBK-Galerie

»Die Muse und das Monster«

Aus einem Gespräch von Alexander Jansen und Dorette Riedel im Katalog zur Ausstellung

Alexander Jansen: Der Titel deiner Ausstellung klingt ein wenig nach dem Märchentitel »La Belle et la Bête« von Madame Leprince de Beaumont.

Dorette Riedel: Ich mag Märchen und ihre surrealen Welten! Den von Jean Cocteau verfilmten Stoff habe ich nicht als Anregung benutzt, vielmehr ergab sich der Titel im Laufe eines Gesprächs mit Bodo Baumgarten. Die Qualität der Mehrdeutigkeit aber liebe ich. So steht für mich formal die Muse für Figur, das Monster für Abstraktion. Die Frau, einmal Muse, einmal Monster, ist auch mit meinen »Auspendelungen« deckungsgleich. Das klingt vielleicht etwas verwirrend, doch wir Verrückten besitzen ja auch immer wieder eine goldene Seite!

Wie meinst du das?

Die Muse und das Monster lieben sich. Und wann immer sie sich lieben, entsteht Kunst.

Deine Ausstellung besteht aus fünf Teilen. Fünf Akte hat das klassische Drama.

Einen solchen Aufbau habe ich aber nicht direkt verfolgt, Parallelen sind somit eher zufällig. Jedoch ließe ich einen Begriff wie Stationen gelten. Auch gibt es eine Idée fixe, eine Art Leitmotiv, das die Teile miteinander verknüpft. Die Protagonistin ist eine Frau, ein Mensch also – in verschiedener Gestalt. Was diesem Menschen passiert, ist Thema der einzelnen Teile. Eine Chronologie der Ereignisse möchte ich aber nicht vorgeben. Der Betrachter darf sich also selbst entscheiden, ob für ihn am Schluß die Katastrophe oder die Lysis, die Lösung der Konflikte, steht.

Im ersten Teil des Katalogs sind Selbstauslöser-Fotos abgedruckt, die in der Völklinger Hütte entstanden sind. In welche Innen-Welt hast du dich begeben?

Es ist die Welt der »Alice im Spiegelland« von Lewis Carroll, kombiniert mit der »Zone« aus Tarowskijs »Stalker«. Ich fiel durch den Spiegel in unbewußte magische Gefilde. Die seit Jahren dem langsamen Verfall ausgesetzten nackten Räume hatte ich mit Wasser geflutet. Der Boden wurde zu einem riesigen Spiegel, in dem die Formen des nackten Körpers verschwammen.

Der Betrachter – oder sollte ich sagen: der Voyeur? – wird herausgefordert: Wer ist die Frau? Wo ist sie? Warum ist sie dort? Diese Fragen bleiben offen.

Das genau ist das Spiel. Die Lösung des Rätsels findet nur der Betrachter selbst.

Diese poetische Serie hast du in Würzburg zu einem Variationenreigen zum Myrrha-Mythos erweitert.

Du hast mir irgendwann so von Ovids »Metamorphoses« vorgeschwärmt, daß ich deine Euphorie einfach überprüfen mußte. [lacht] Dabei fand ich Myrrha – diese traurig-schöne Geschichte vom Mädchen, das ihren Vater lieben mußte und als Baum Tränen weint. Die Myrrha-Puppe selbst ist eine bemalte Plastik aus Vollholz mit Gelenken. Man muß sie ausbalancieren, sonst würde sie stürzen.

Warum bemalst du deine Skulpturen?

Am Schnitzen hat mich das Glätten der Oberfläche fasziniert. Das aber hat auch alles Lebendige getötet. Die Malerei reißt die Oberfläche wieder auf.

»Mosaiken« nennst du eine Reihe kleinformatiger Ölbilder.

Die Bilder sind sezierende Blicke auf Körperteile. Innerhalb der Ausstellung bilden sie ein verzögerndes Moment, einen Augenblick des Innehaltens, der Selbstversicherung im Strudel der Ereignisse. Nichtigkeiten werden bedeutungsvoll: anatomische Faltenwürfe, Schwemmkegel eines Adernstroms, Rückstände von Feuchtigkeiten.

Die Puppe »Blanche« ist das Ergebnis eines Arbeitsprozesses, der bei dir ansetzte, als ich im Sommer 2001 mit den Vorbereitungen zu meiner Inszenierung eines Musiktheaters »Infinito nero« von Salvatore Sciarrino am Saarländischen Staatstheater begann. Neben den Texten der Mystikerin Maria Magdalena de Pazzi aus der Zeit um 1600 beschäftigten wir uns auch mit den Experimenten von Jean-Martin Charcot (1825–1893), dem Begründer der modernen Neurologie.

Charcot leitete das Nervenkrankenhaus Hôpital Salpêtrière in Paris, der damals bekanntesten psychiatrischen Anstalt Europas. Hier vegetierten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts streng hier­archisch voneinander sortiert fast viertausend Frauen. Im Dunkel hausten Demente und chronisch Kranke, in der ersten Etage stolzierten die Hysterikerinnen. Ihre Posen, ihre Schreie, ihre leidenschaftlichen Haltungen (»les attidudes passionnelles«), Kreuzigungen, Ekstasen hielt Charcot in unzähligen Fotos fest, in der »Iconographie photographique de la Salpêtrière«.
Blanche hat gelebt. Sie war Blanche Wittman, geboren 1859, ihr Sterbedatum ist unbekannt. Charcot hielt sie als Favoritin. Er hypnotisierte sie und demonstrierte an ihr die Ausformung der Hysterie. Nach seinem Tod wurde sie Laborassistentin von Marie Curie.
Durch die Arbeit mit Pechblende wurde sie so verstrahlt, daß man ihr beide Beine und einen Arm absägen mußte. Als ich die Puppe schnitzte, überlegte ich, ob ich die verlorenen Extremitäten, ihre Beine, ihren Arm, um den Torso gruppieren sollte. Ich entschied mich aber für den Zustand vor dieser Malträtierung.

Deiner Blanche hängt die Zunge aus dem Mund. Warum zeigt sie die Zunge? Wen provoziert sie?

Niemanden. Blanche wurde vielmehr provoziert. Zu den Experimenten in der Salpêtrière gehörten verschiedene Provokationen: Mit dem Ton einer Stimmgabel wurde die Kontraktion der Zunge ausgelöst.

Du inszenierst die Präsentation deiner Figur wie Charcot, der für seine Hysterikerinnen eigens auf dem Gelände der Anstalt ein Amphitheater errichten ließ. Seine Assistenten dirigierten vor einem öffentlichen Publikum die Patientinnen. Was passiert heute in der Ausstellung? Auch du hast ein Publikum.

Charcot wollte sein Publikum belehren, und er reduzierte seine Patientinnen. Er mechanisierte sie zu einem Vorführapparat, zum Spielzeug und somit zur Puppe. Ich will nicht belehren, ich zeige.

Deine Puppe zeigt die seit Jahrhunderten festgeschriebene Blickrichtung der Entrückung.

Ja. Für mich ist Blanche eine Heilige.

Dieses Vexierspiel setzt du in den Miniaturbildern fort.

Ich habe sie »Schwarze Spiegel« benannt. Schwarzer Lack, Ölfarben und Pigmente auf beidseitig bemalten schwarzem Karton. Die Arbeiten hängen frei im Raum, sie schwingen, schweben und tanzen – wie ein Mobile.
Sie sind ein Reflex auf »4.48 Psychose«, des Theaterstücks der britischen Dramatikerin Sarah Kane, dem letzten Werk vor ihrem Freitod …
»4.48 Psychose« beschreibt den »Moment der Klarheit vor der ewigen Nacht«.

Könnte man das nicht als destruktiv mißverstehen?

Nein. Das Motto meiner Interpretation bedeutet: »per aspera ad astra« – »Auf rauen Pfaden zu den Sternen«.

Was soll für dich Kunst bezwecken?

In der Tragödie der Griechen wird, glaube ich, die Erschütterung der Seele, die sich einstellen soll, mit einem Wort bezeichnet, das »Meeresstille« bedeutet. ¶


Die Ausstellung »Die Muse und das Monster« mit Arbeiten von Dorette Riedel ist noch bis Sonntag, 28. Januar, in der BBK-Galerie im Kulturspeicher Würzburg zu sehen. Öffnungszeiten und Informationen unter www.bbk-unterfranken.de

Der Katalog zur Ausstellung ist im Buchverlag Peter Hellmund erschienen und kostet € 6.–
Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.