Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Tokio
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Fotos: Achim Schollenberger

Gewinner und Verlierer

Herausgepickt aus dem Programm des 33. Internationalen Filmwochenendes
in Würzburg

von Achim Schollenberger

Unterschiedlicher könnten die Welten nicht sein, die da aufeinanderprallen: Hier die ruhige, deutsche, geregelte Gründlichkeit, dort die chinesische, ameisengleiche, hektische Umtriebigkeit, welche es mit Vorschriften nicht so genau nimmt. Gewöhnungsbedürftig ist die zwangsweise Annäherung für beide Parteien auf der Baustelle der letzten Dortmunder Kokerei Kaiserstuhl.

»Losers and Winners« heißt der sehenswerte Eröffnungsfilm von Ulrike Franke und Michael Loeken, die eineinhalb Jahre lang die Demontage der gigantischen Fabrikanlage mit der Kamera begleitet haben. Was in Deutschland nicht mehr aus Rentabilitätsgründen brauchbar ist, wird andernorts als Meilenstein der Technik gerne genommen. Die komplette Anlage wurde von 400 chinesischen Arbeitern zerlegt, nach China verschifft und dort wieder aufgebaut. Verlierer bei diesem Mega-Deal waren zweifellos die deutschen Koker, von denen einige pikanterweise mithelfen mußten, ihren langjährigen Arbeitsplatz mit abzubauen.

Faszinierend ist der Einblick in die unterschiedlichen Mentalitäten. Die eklatanten Gegensätze und Vorstellungen gilt es zunächst zu überbrücken. Was für die hiesigen, teilweise resignierenden Projektleiter ein ungläubiges Kopfschütteln hervorruft, wie die Nichteinhaltung gewisser Sicherheitsbestimmungen, weckt bei den voller Tatendrang agierenden chinesischen Verantwortlichen oft nur Unverständnis und Achselzucken. Zeitersparnis bedeutet auch in China jede Menge Geld und verspricht höheren Profit für die global ausgerichteten Investoren. Was für uns nur schwer nachvollziehbar ist, gehört anderorts zum selbstverständlichen Alltag. Die Arbeit von Tagesbeginn bis zum Einbruch der Dunkelheit beispielsweise, und, wenn es sein muß, auch ohne freien Tag in der Woche. Alles im Dienste einer über allem schwebenden Parteiideologie.

Spannend zeigt der Film die schrittweise Annäherung der unterschiedlichen Positionen, schildert den Prozeß aus der Sicht der beiden Parteien. Er kritisiert dabei nicht, enthält sich jeglicher Wertung. Die kann jeder Zuschauer für sich selbst finden. Die Bilder und die Äußerungen der Beteiligten sind aussagekräftig genug.

Pikanterweise sind mittlerweile die Kokspreise um das Zehnfache gestiegen, und schon überlegt man in Deutschland, wieder mit der eigenen Produktion zu beginnen. Die Chinesen können sich freuen, sie sind die Gewinner, die Fabrikanlage ist seit 2006 im Reich der Mitte wieder in Betrieb und bringt satte Gewinne.

Vielleicht liegt es an der Schwermut, die sich im kalten Winter manchmal wie ein grauer Schleier über das Land zu legen scheint. Allzu überbordend Fröhliches ist man von finnischen Filmemachern sowieso nicht gewöhnt, auch »Frozen City« von Aku Louhimies hat keine frohe Botschaft zu bieten:
Zu den Gewinnern gehört der finnische Taxifahrer Veli-Matti im verschneiten Helsinki nicht. Seine Frau Hanna, nach zwei Monaten von einer Studienreise zurück, eröffnet ihm, daß sie einen Franzosen kennengelernt hat und will nun, daß er auszieht. Die Kinder soll er auch nur alle zwei Wochenenden sehen dürfen. Eine neue Bleibe wird gefunden, doch bleibt sie steril und kalt, es will sich keine Behaglichkeit entstellen. Veli-Mattis Abstieg beginnt, gleichzeitig steigt der Alkoholkonsum. Die Welt nervt, die Fahrgäste auf den Touren durch das winterliche Helsinki ebenso. Er verliert den Job, dazu terrorisiert ihn der neue Wohnungsnachbar mit unsinnigen Forderungen. Man kann Mitleid mit ihm haben, fast Verständnis. Ein Anlaß nur, und Taxi-Driver Veli-Matti rastet aus.

Unsentimental und unterkühlt – in nüchternen Bildern zeigt Louhimies das Abgleiten seines Protagonisten in die Krise, zeichnet die bedrückende Atmosphäre der alltäglichen Tristesse. Die Auflösung der haltgebenden Familie passiert schleichend und mit ihr breitet sich die Sprachlosigkeit aus. Die Hoffnung auf Annäherung schwindet.

Weiter geht’s mit Schwermut. »Slumming« des österreichischen Filmemachers Michael Glawogger bietet eigentlich auch nur das Leben von seiner eher öden Seite: Es herrscht Winter in Wien. Durch die U-Bahn und die verschneiten Straßen pöbelt sich der trinkende Dichter Kallmann und versucht, seine Gedichte an den Interessenten zu bringen – meist vergeblich. Voller Wut und Aggression zieht er durch die Stadt, ein roher Klotz, schimpfend; wenn das Geld knapp ist, bedient er sich eben.

In einem parallelen Handlungsstrang hat Glawogger den jungen, reichen Schnösel Sebastian (August Diehl) auf die Welt losgelassen. (Der Himmel weiß, warum Diehl diese Rolle angenommen hat, sie ist keine Offenbarung, die großes Talent erfordern würde.) Der arrogante Fatzke fotografiert am liebsten seine weiblichen Verabredungen mit dem Fotohandy unterm Tisch zwischen die Beine, ansonsten »slummt« er, mangels anderweitiger Beschäftigung mit Kumpel Alex durch Wiens Halbwelt und heckt spontan dumme, kindische Streiche aus. Dann will es das Drehbuch, daß er an der Volksschullehrerin Pia hängenbleibt. Warum, ist nicht so recht auszumachen. Auf einer nächtlichen Tour finden Alex und Sebastian den besoffenen Kallman und karren den Schlafenden mit dem Auto nach Tschechien und überlassen ihn seinem Schicksal.

Was Glawogger mit seinem Film eigentlich will, bleibt nebulös. Er vermischt surreale Sequenzen (was will das Rehkitz in der Stadt dem Zuschauer sagen?) mit harter Realität. Leider bleibt er ein schlüssiges Konzept schuldig. Man stellt sich die Sinnfrage und findet keine Antwort. Manchmal hat man den Eindruck, für einige Filmemacher stellt ein schlüssiges Ende ihres Werkes eine hohe Hürde dar. Auch Glawoggers abstruse Geschichte rauscht orientierungslos dahin. Wird Kallmann brav werden? Was macht Sebastian nun in den echten Slums Indonesiens? Wozu das ganze Getue vorher?
Schade um die vertane Zeit. Ganz im Gegensatz zum vergangenen Jahr, als Michael Glawogger mit seinem Dokumentarfilm »Workingman’s Death« einen erstklassigen, packenden Beitrag beim Filmwochenende präsentiert hatte.

»Fallen«, ein weiterer österreichischer Beitrag – von Barbara Albert – setzt ganz bewußt auf Dialoge und zwischenmenschliche Atmosphäre und besitzt wohl deshalb keine richtige Dramaturgie. Die kleine Episode aus dem Leben von fünf Frauen Anfang 30 ist relativ schnell erzählt: Nach Jahren treffen sich die ehemaligen Klassenkolleginnen auf der Beerdigung ihres ehemaligen Lehrers in ihrer Heimatstadt.

Man ahnt es schon: Ereignisse dieser Art bieten den Nährboden, um sich über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftspläne auszutauschen. Ein paar Fragen des Lebens kommen auf den Tisch, und zwischen dem Zugrabetragen und der zufälligen Hochzeitsfeier weiterer alter Bekannter beginnt das gern bemühte Inszenieren von Gesprächen, die das Leben im besonderen und im speziellen ausloten sollen. Dieses Filmsujet ist ja beileibe kein neues und steht bei Festivals des anspruchsvollen Films immer wieder gerne im Programm. So verwundert es nicht, daß auch bei Barbara Albert keine neuartigen Erkenntnisse zu finden sind. Man zeigt Gefühle, Ängste, Sorgen. Man kratzt ein wenig an der Oberfläche, öffnet die Schale und zeigt, daß man in der Schule früher andere Vorstellungen vom anderen hatte. Illusionen, denen man aufsaß, kommen ans Licht. Das Leben hat sich, so wie bei den meisten eben, ganz anders entwickelt. Kurz flackern mal die Temperamente auf, ansonsten zeigt sich die »Landpartie ins Innere« ohne große Höhepunkte. Der Film erzählt dies in bedächtigen Bildern und ist für Sinnsucher ein zweifellos interessanter, tröstlicher Beitrag. Mehr aber auch nicht.

»Zorro’s Bar Mitzva«, der seltsame Titel macht neugierig auf den Dokumentarfilm von Ruth Beckermann. Was haben der maskierte Leinwandheld und das jüdische Fest gemeinsam? Beckermann begleitet vier Jugendliche, die sich auf ihren Festtag vorbereiten. Mit dem 13. Geburtstag werden die jüdischen Jungen (und mit dem 12. die Mädchen) religionsmündig, und die Familie feiert dies mit einem Bar Mitzva Fest für die Jungen oder einer Bat Mitzva für die Mädchen. Unterschiedlicher könnten die Feierlichkeiten von Sharon, Tom, Moishy und Sophie nicht sein. Der eine wünscht sich Zorro als Leitthema seines Festes, und die Eltern sind auch mit genügend finanziellen Mitteln ausgestattet, um mit extra gedrehtem Filmchen, großem Pomp und Showprogramm den wichtigen Tag im Leben ihres Spößlings zu feiern. Der andere begeht seine Feier eher traditionell im religiösen Sinne. Nervös sind die vier Jugendlichen allemal, je näher das große Fest rückt und die Erwachsenen nicht minder. Die Kamera begleitet die unterschiedlichen Vorbereitungen, mal in Wien, mal in Israel, läßt Kinder und Eltern zu Wort kommen, zeigt ihre Erwartungen. Die Gespräche lassen die große Bedeutung für die Beteiligten erahnen. Das geschieht in Beckermanns Film locker und ungekünstelt. Er gibt dazu einen vielschichtigen, sehr informativen Einblick in eine andere Religion mit ihren Initiationsritualen und Traditionen.
Kontrovers dürften die Meinungen über den Beitrag von Florian Gaag sein. Zumindest waren sie dies schon, bevor er seinen Film »Wholetrain« überhaupt beginnen konnte. Für die einen ist es Sachbeschädigung, das ist nachvollziehbar, für die vier Sprayer David, Tino, Elyas und Achim in Gaags Film dagegen der reine Lebensinhalt. Sie setzen ihre sichtbaren, unübersehbaren Zeichen in der Stadt und betreiben ihr illegales Geschäft mit akribischer Ernsthaftigkeit. Gaag scheint sich im Milieu auszukennen und entführt den Zuschauer in eine eigene Welt mit speziellen Sprachcodes und Werten, die für einen Normalbürger nur schwer verständlich sind. Für Davids Crew sind es keine verunzierenden, bloß hingesprühten Verschmutzungen – die »Tags«, ihre Signaturen, sind ihre Identität, die sie zu etwas Besonderem machen, sie sichtbar aus der Masse heben. Es geht nicht darum, aus reiner Lust Zufallsprodukte an die Wand zu schmieren. Die Szene bestimmen echter Wettbewerb um das bessere Graffiti zwischen den einzelnen Gangs – »Old School« oder neue Richtung – und die Angst vor dem künstlerischen Scheitern. Es gibt Lehrer und Schüler, Hierarchien und Rivalitäten, den Zwang, alles immer und immer wieder zu toppen. Dazu droht die latente Gefahr des Erwischtwerdens, und daraus resultierende gewaltige Schadensersatzforderungen. David, der Anführer der Gang, kann ein Lied davon singen. Als Non-plus-Ultra gilt das Bemalen eines kompletten Zuges.

Genüßlich werden die Gegner der Graffiti-Szene zur Kenntnis nehmen, daß das offensichtlich der pure Streß für die nächtlichen Stadtguerilleros ist und ein großer Leistungsdruck die Laune genauso vermiest wie bei den »Normalos« im bürgerlichen Alltag.
Ob der Problematik war man an vielen Stellen nicht gerade euphorisch und enthusiastisch, was die Unterstützung zur Realisation des Films anging. Die Deutsche Bahn hatte kategorisch abgelehnt, was verständlich ist, denn Vandalismus in Bahnhöfen und »beschmierte« Züge sind Dauerprobleme. Wer möchte schon durch einen Kinofilm zur Nachahmung anregen? Das ZDF zeigte sich da mutiger und risikierte eine Förderung. Nach langer Suche konnte man schließlich in Warschau drehen. So dreht dort ein kunstvoll verzierter »Wholetrain« seine Runden. Gaag ist es gelungen, eine wirklich glaubhafte und ungeheuer dichte, dynamische Atmosphäre zu schaffen. Die dokumentarisch anmutende Machart, unterstützt durch die passende Rap- und Funk- Musik, erzeugt Authentizität, die mit zunehmender Dauer fesselt.

Zu guter Letzt noch ein Blick ins Nachtprogramm – auch in diesem Jahr scheint es fest in asiatischer Hand: Ein inhaltlich einfacher Film, aber ein echtes Kunstwerk im optischen Sinn ist die koreanische Produktion »Duelist« von Regisseur Myung-se Lee.
Was er an schönen Bildern zu bieten hat, ist wirklich beeindruckend. Man spürt die Wesensverwandschaft zu den Comics von Zeichner Bang Hakki, der mit seinen Geschichten um die Detektivin Namsoon, die zur Zeit der Chosun Dynastie ihre Abenteuer erlebt, die Grundlage geschaffen hat. Myung-se Lee nutzt seine Inspirationsquelle und schafft wunderschöne Sequenzen, spannende Hell/Dunkel-Wechselspiele und kontrastierende Panels inmitten einer ziemlich spannungslosen, verworrenen Geschichte. Die Suche nach den Drahtziehern eines Geldfälscherrings führt unsere Heldin samt Kollegen zum Finanzminister Song und dessen geheimnisvollen Leibwächter, Schwertkämpfer »Sad Eyes«. Den gilt es zu besiegen, aber weil er so hübsche Augen hat, ist die Liebe nicht weit. Was zur Folge hat, daß es nur Gewinner gibt und die Kampfszenen eher wie ein nächtlicher Pas de deux unter Mondlicht inszeniert werden. Ein paar pfiffige Ideen sind allerdings zu finden, so erinnert die Jagd nach einem Sack voll Geld wie der Spielzug einer American Football Partie und die moderne Musik zur Untermalung hat etwas von Miami Vice. Ob das paßt, ist Geschmackssache. Das Wechselspiel von temporeicher Action und Bildgemälde beeindruckt jedenfalls durch seine Optik – wer es schafft, den Rest halbwegs auszublenden, kann sich sattsehen. ¶


33. Internationales Filmwochenende vom 25.–28. Januar 2007 in Würzburg. Mehr Informationen unter www.filmwochenende.de