Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Oberwaldbehrungen
< zur nummer 24

 

Lenz –
ein Genosse unserer Zeit

von Manfred Kunz

Gut zwei Wochen, vom 20. Januar bis Anfang Februar 1778, findet der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz Zuflucht im Haus des Pfarrers Oberlin im Vogesendorf Waldersbach. Der 27jährige Lenz galt zu diesem Zeitpunkt als einer der begabtesten Dramatiker des Sturm-und-Drang, hatte sich 1776 in Weimar in unmittelbarer Nähe des Olympiers Goethe aufgehalten und sich im November durch »eine für Goethe sehr verdrießliche Eselei« um die Gunst des Platzhirschen des damaligen Literatur- und Geisteslebens gebracht. Die am 1. Dezember 1776 folgende Ausweisung durch den Herzog beendete nicht nur die literarische Karriere des Dichters, sondern macht ihn zum getriebenen Heimatlosen, zu einem Menschen auf der Flucht, auf einer Flucht ohne Ende.

Auch Georg Büchner befindet sich auf der Flucht, auch er ist – knapp 60 Jahre später – seit dem März 1835 ein Ausgestoßener und Verfolgter, ein Grenzgänger und Emigrant. Er lebt in Straßburg mit der beständigen Sorge, als steckbrieflich gesuchter politischer Flüchtling wieder nach Hessen ausgeliefert zu werden. Durch Freunde wird Büchner auf den »Fall Lenz« aufmerksam; sie versorgen ihn mit den Tagebuchaufzeichnungen des Pfarrers Oberlin, mit weiteren Briefen von Lenz und lokalen Nachrichten. Im Mai 1835 nehmen die Pläne für die Novelle »Lenz« konkrete Formen an, vorgesehen ist eine Publikation als Fortsetzungsdruck im ersten Heft der »Deutschen Revue«, die der Schriftstellerfreund Karl Gutzkow für Herbst 1835 plant. Ein bundesweites »Vorausverbot« der Zeitschrift bremst Büchners Weiterarbeit am Stoff; auch wenn er sich möglicherweise Ende 1836 nochmals mit dem »Lenz« beschäftigt, die Fertigstellung schafft Georg Büchner vor seinem Tod am 19. Februar 1837 nicht mehr. Posthum wird der Fragment gebliebene Novellen-Text erstmals im Januar 1839 im Hamburger »Telegraph für Deutschland« veröffentlicht.

Die Literaturwissenschaft zählt Büchners »Lenz« zu den wichtigsten Erzähltexten der Moderne, der Dramatiker Heiner Müller bezeichnete ihn 1987 bei einer Lesung im Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf gar als »Prosa aus dem 21. Jahrhundert«. An zwei dramatisierten Bühnenfassungen konnte der literaturinteressierte Würzburger in den letzten Wochen die Gültigkeit dieser Behauptung selbst überprüfen. Nahezu zeitgleich brachten sowohl die Werkstattbühne (am 24. Januar) als auch das Mainfrankentheater in seinen Kammerspielen (am 27. Januar) den »Lenz« in komplett unterschiedlicher Interpretation auf die Bühne. Zwei Sichtweisen, die nicht nur als Beleg für die unterschiedlichen Ästhetiken von städtischer und freier Kultur dienen können, sondern auch einen Beitrag zu den in überregionalen Feuilletons in den letzen Monaten viel diskutierten Fragen: Was ist und wo endet eine »werkgetreue« Inszenierung, bzw. andersherum: Wieviel »Regietheater« vertragen klassische Texte?

Intendant Hermann Schneider selbst zeichnet verantwortlich für die szenische Einrichtung des Textes in der Kammer, den er im Werbeflyer als »Erzähltheater von Georg Büchner« beschreibt. Dazu hat Ausstatterin Christiane Knoll die Bühne in einen mit Gerümpel aller Art vollgestellten Dachboden verwandelt. Ein junger Mann tappt darin endlos lang durchs Halbdunkel – ehe er, wie originell, ein verschnürtes Manuskript findet: den Text des »Lenz«. Er beginnt zu blättern und zu lesen, verwandelt sich mit fortschreitender Lektüre selbst in die Figur der Geschichte. Christian Manuel Oliveira wird Lenz, ein zeitgenössischer Twenty-Something, der, wie es im modischen Neudeutsch heißen würde, »irgendwie auf der Suche nach seiner Identität« ist. Dieser Kniff holt den Text in die Gegenwart, macht ihn lebendig und höchst anschaulich. Oliveira variiert Tempo und Intensität, zeigt sich mal impulsiv energisch, mal in sich gekehrt, niedergeschlagen, depressiv. Synchron zum Text liefert er die in Schneiders Blick passenden Bilder, läßt dem Publikum keinen Spielraum für eigene, andere Assoziationen. Im Gegenteil: Stellenweise übernehmen die auf Effekt hin kalkulierten, szenischen Lösungen die Herrschaft über den Text, Büchners gleichermaßen drastische wie filigrane Sprache wird einfach überinszeniert. Das Sehen gewinnt beim Zuschauer die Oberhand über das Hören und verstehende Nachempfinden eines ge- und zerbrochenen Lebens; Büchners vielschichtige Erkundung des komplexen Seelenlebens des nicht nur literarisch gescheiterten, sondern auch psychisch in Auflösung befindlichen Dichters Lenz wird gelegentlich an den billigen theatralischen Effekt verraten; und beim verzweifelten Buhlen um ein junges Publikum unter dem Label einer »Studie über die verzweifelte Sinnsuche und Orientierungslosigkeit eines Jugendlichen« schließlich auch noch auf das Rezeptions-Niveau von Vorabendserien herunterpsychologisiert.

Ein ganz anderer Blickt öffnet sich keine 100 Meter weiter, im Keller der Werkstattbühne, auf den Stoff. Auf leerer Bühne, vor schwarzem Hintergrund steht ein schwarz gekleideter Markus Grimm und spricht den Novellentext. Gelassen-beiläufig hebt er an: »Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war nasskalt …«; er behält den distanzierten Duktus bei, erweckt den Text allein mit seiner warmen Intonation zum Leben. Die Konzentration gilt ganz der Sprache Büchners, nur selten und dann höchst zurückhaltend variiert er Gestik und Mimik, setzt beide Stilmittel allenfalls begleitend, unterstützend ein. Und um wie vieles stärker ist doch gleich die Wirkung: gebannt lauscht man den Worten, hängt trotz zweifacher Vorab-Lektüre Grimm förmlich an Lippen, saugt jede Artikulation in sich hinein und findet sich urplötzlich mitten drin in jenem unwiderstehlichen Sog, den ein Leben am Rande des Wahnsinns auslösen kann. Welches »Wahnsinns« beginnt man sich mit Büchner zu fragen, ist sein Lenz doch einfach nur ein Leidender, einer der leidet an seiner Seele, an der Nicht-Anerkennung, an Einsamkeit, an fehlender Zuneigung, an Verzweiflung über die politischen und sozialen Verhältnisse seiner Zeit und dessen Hilferufe ungehört verhallen oder als vermeintliches »Seelenchaos« therapiert werden.

Geradezu liebevoll versenkt sich Grimm in einen Menschen, der ohne eigene Schuld der Menschheit verlorengeht – und bringt den Text so ganz unprätentiös auf die Höhe der Zeit, beweist damit zugleich dessen Zeitlosigkeit. Eine Dichtung, die nicht altert und deren Stellenwert im laufenden Jahrhundert eher noch zunehmen wird: Mit der Sprache als letztem verbliebenen Zufluchtsort der gequälten Seele. ¶


Lenz
… mit Christian Manuel Oliveira in den Kammerspielen des Mainfrankentheaters, letztmals am 7. April 2007;
… mit Markus Grimm in der Werkstattbühne abgespielt. Weitere Termine an anderen Orten unter www.dergrimm.de