Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Weimar
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Gräfin Ingeborg Kálnoky.
Foto: Goldmann Verlag

Zeugenhaus in Nürnberg-Erlenstegen.
Foto: Goldmann Verlag

Ein zweifelhaftes Buch

Die Journalistin Christiane Kohl berichtet über »Das Zeugenhaus«, eine Randerscheinung der Nürnberger Prozesse.

von Wolf-Dietrich Weissbach

Rechtzeitig zum Jahrestag hat die in Dresden lebende Publizistin Christiane Kohl (Spiegel/SZ) ihr Buch über eine bizarre Randerscheinung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse vorgelegt. Vor 60 Jahren – ab Herbst 1945 für rund drei Jahre – hatten die amerikanischen Militärs die Zeugen der Anklage wie der Verteidigung gemeinsam in einer kleinen Villa am Stadtrand von Nürnberg untergebracht. Nicht oder noch nicht angeklagte Täter, »niedere Dämonen«, Mitläufer und Nutznießer des NS-Regimes, Sekretärinnen und Ehefrauen von angeklagten Nazi-Größen, mit Widerstandskämpfern und gerade erst befreiten Häftlingen, Überlebenden aus Konzentrationslagern, Opfern. Unter einem Dach!

Christiane Kohl hatte im Sommer 1980 vom »Zeugenhaus« erfahren. Sie hatte ihre Eltern besucht. Am Abend erzählten, wie so oft, die alten Herren, ihr Vater und der Hausfreund Bernhard von Kleist, vom Krieg. Diesmal allerdings holte Bernhard von Kleist aus seinem Zimmer ein Gästebuch, das seine verstorbene Ehefrau Annemarie von Kleist als (zweite) Hausdame im Zeugenhaus damals geführt hatte. Die Eintragungen in diesem Gästebuch und das wenige, das Bernhard von Kleist, der bei den Nürnberger Prozessen als Dolmetscher tätig war, erzählen konnte, war für Christiane Kohl der Anstoß zu einer Recherche, die sich bis ins Frühjahr 2005 erstreckte – neben dem Lesen von Vernehmungsprotokollen meint dies vor allem Gespräche mit jedem (so noch möglich), dessen Name in einem Zusammenhang mit dem Zeugenhaus auftauchte. Anders war über das Zeugenhaus kaum etwas zu erfahren; 1949 wurden Auszüge aus einem Bericht der ersten Hausdame, Gräfin Ingeborg Kálnoky, in einer Münchner Tageszeitung veröffentlicht; 1975 veröffentlichte die Gräfin abermals ein, von einer Ghostwriterin geschriebenes, nach Aussage von Christiane Kohl aber nicht sonderlich brauchbares Buch (The Guesthouse) darüber in den USA; in anderen Texten aber wird das Zeugenhaus kaum erwähnt. Schließlich konnte Christiane Kohl 1995 mit der ungarischen Gräfin Ingeborg Kálnoky, die inzwischen 87jährig in Cleveland in den USA lebte, sprechen und dabei auch das andere, das erste Gästebuch einsehen.

Christiane Kohls Rekonstruktion, ihr nachempfundenes Stimmungsbild der Geschehnisse im Zeugenhaus, beginnt mit der selbst bereits abenteuerlichen Geschichte der Gräfin, einer in Ranis in Thüringen geborenen von Breitenbuch, die in den 1930er Jahren mit ihrem ungarischen Grafen in einem »herrlichen Schloß« (»ein weißer Traum, umgeben von Kletterrosen«) in Transsylvanien lebte. Kurz vor dem 2. Weltkrieg aus Rumänien vertrieben, zieht die Familie nach Budapest. 1945 flieht die junge Gräfin mit ihren drei Kindern – der Ehemann bleibt in Budapest – vor den Russen zunächst nach Wien und später in die Nähe von Pilsen in der Tschechoslowakei. Hochschwanger wird sie schließlich – vorübergehend auch von ihren Kindern getrennt – von amerikanischen Soldaten in einem Panzer nach Nürnberg gebracht. Wenige Tage nach der Geburt ihres vierten Kindes bekommt die 36jährige gutaussehende Gräfin, nach stundenlangen Vernehmungen durch zwei amerikanische Offiziere, nicht zuletzt wegen ihrer Sprachkenntnisse (Deutsch, Englisch, Französisch, Ungarisch) die Stelle als Hausdame in einer Villa in Erlenstegen angeboten, in der zunächst die Ehefrauen der Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse untergebracht werden sollen. Als sie kurz darauf den Dienst antritt, ist daraus bereits das Zeugenhaus geworden.

Die Eigentümerin des Hauses, Elise Krülle, deren Mann vermißt wird, muß sich mit ihrem Sohn im Keller einrichten und der Gräfin fortan zu Hand gehen. Vor dem Haus wachen GIs.

Dann kommen die ersten Zeugen: Karl Haushofer, der Lehrer von Rudolf Heß, Heinrich Hoffmann, der Fotograf Hitlers, Rudolf Diels, Gründer und Chef der Gestapo (bis 1934). Kurzfristig logieren auch die Verteidiger der Angeklagten Hjalmar Schacht, Alfred Jodl, Erich Raeder, Karl Dönitz in der Novalisstraße. Henriette von Schirach, die Tochter von Heinrich Hoffmann und Ehefrau von Baldur von Schirach, zieht ein. Dann Hitlers Adjudant Fritz Wiedemann, den der Ankläger Robert M. Kempner für einen wichtigen Zeugen erachtet, und General Erwin Lahousen Edler von Vivremont, der zum Kreis der Widerständler um Admiral Canaris gehörte und zu einem der wichtigsten Belastungszeugen im Hauptprozeß wird.

Das Buch von Christiane Kohl hat auf diesen Seiten allerdings längst von »irritierend« in »zweifelhaft« gewechselt. Läse man »Das Zeugenhaus« als fiktionale Literatur, müßte man es als Verklärung des Mitläufertums ansehen; als »authentische Nacherzählung« muß man der Autorin freilich immer noch zumindest eine fragwürdige Arglosigkeit nachsagen. Seitenweise präsentiert sie den erinnerten Tratsch einer an ernsthaften Themen offensichtlich völlig desinteressierten Dame der besseren Gesellschaft.

Tatsächlich scheinen die Quellen – vor allem ihre Zeitzeugen – nicht allzu viel über die Vorgänge im Zeugenhaus herzugeben. Und wenn, dann betrifft es Umstände, die man als Leser eigentlich nicht wissen will: daß Rudolf Diels ein durchaus unterhaltsamer Charmeur war, der ständig hinter den Frauen her war und »vielleicht« ein Verhältnis mit Katharina von Faber-Castell hatte, »vielleicht« auch eines mit Gräfin Ingeborg Kálnoky, seiner »Maisgräfin«, die wiederum »vielleicht« ein Verhältnis mit dem amerikanischen Militärgeistlichen Pater Fabian Flynn hatte; daß auch Henriette von Schirach den Eindruck machte, als vergnüge sie sich mit jungen amerikanischen Offizieren; daß Heinrich Hoffmann ein zwar nicht sonderlich sympathischer, aber gewiefter Händler war, der auch die neuen Verhältnissen zu seinem Vorteil zu nutzen verstand und sich gern in der Küche des Zeugenhauses aufhielt. Daß die amerikanischen Ankläger bereit waren, manche nicht ganz so schmutzigen Täter davonkommen zu lassen, wenn diese im Gegenzug zu belastenden Aussagen gegen die Hauptangeklagten bereit waren; daß sogar zwischen amerikanischen Anklägern und deutschen Mitläufern, wie zwischen Robert M. Kempner und Rudolf Diels, gute Beziehungen bestanden und man bisweilen im Jagdschloß der Familie von Faber-Castell in Dürrenhembach gemeinsam feierte – all das wird breit abgehandelt, während von jenen Gästen des Zeugenhauses, die in Konzentrationslagern waren, oft nicht einmal die Namen genannt werden können.

Da gab es wohl einen Bauer, der sich im Hause mit dem Stopfen von Strümpfen nützlich machte. Da war auch ein Ingenieur ohne Zähne. Man kommt nicht umhin, die Darstellung des Buches so zu verstehen, daß es sich in diesen Fällen nicht um den rechten Umgang für die Gräfin handelte. Es wird lieber von banalen Geschehnissen und Plaudereien zwischen Mitläufern berichtet, während die Gespräche etwa zwischen Heinrich Hoffmann und ehemaligen KZ-Insassen zwar ausnahmsweise einmal beobachtet, aber natürlich nicht belauscht wurden.

Christiane Kohl reiht im großen und ganzen entsprechend der Chronologie des Eintreffens im Zeugenhaus aneinander, was der Betreffende im NS-Regime war oder zu erleiden hatte und was er im Prozeß aussagte. Und nur, wenn es jemand war, der der jeweiligen Hausdame aus irgendeinem eher belanglosen Grunde damals auffiel und diese sich auch daran erinnerte, dann wird berichtet, was im Zeugenhaus geschah. Von einigen Zeugen, wie etwa dem Schweden Birger Dahlerus, wird lediglich ihre Rolle im Prozeß berichtet. (Dahlerus belastete Göring; nach seiner Aussage im Prozeß fuhr er mit der Gräfin Kálnoky ins Pressecamp auf Schloß Stein.)

All das war offensichtlich der Autorin selbst zu dürftig. Auf den letzten fünfzig bis achtzig Seiten ist durchaus auch Interessantes zu finden, das jedoch an anderer Stelle gewissenhafter dargestellt und eigentlich bekannt sein könnte. Immerhin: Der Ton des Buches wird ernsthafter, was dennoch relativ selten tatsächlich mit dem Geschehen im Zeugenhaus zu tun hat. Die Gäste gingen abends gern in das Gasthaus »Zum Goldenen Stern«.

Richtig dramatisch wird geschildert, daß Heinrich Hoffmann einen Selbstmordversuch unternimmt. (An Spannung nur noch von einer Auseinandersetzung um einen heruntergefallenen Federhalter überboten, wobei angedeutet wird, wie kostbar damals Schreibzeug war.) Andererseits erfährt man auch, daß der Flugzeugkonstrukteur Willy Messerschmidt nicht rechnen konnte, nichts von Zwangsarbeitern in seinen Werken gemerkt haben und für die Damen im Zeugenhaus einen Staubsauger bauen wollte.

Es tauchen noch einige bekannte Personen und Namen im Zeugenhaus auf, wie der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner, der als Repräsentant des deutschen Volkes der Hinrichtung von zehn der zwölf zum Tode verurteilten Angeklagten beiwohnte, wie Roland Graf von Faber-Castell, der mit Rudolf Diels sprechen wollte, wie Eugen Kogon, der am 23. März 1947 sieben Stunden lang im Gericht Auskunft über Leben und Sterben im Konzentrationslager Buchenwald gab.

Das Strickmuster des Buches bleibt dabei bis zum Ende das gleiche: in Ausschnitten immer mal die Verbrechen der Nazis zu schildern und im nächsten Abschnitt oder Kapitel wieder eine nette Anektode, Klatsch und Tratsch.

Christiane Kohl formuliert: »Mein Anliegen war es, die historische Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen zu ergründen, sie erzählerisch zu ordnen und so wiederzugeben, daß sie verstehbar wird auch für Menschen, die sich nicht wissenschaftlich mit den Fragen der Vergangenheit befassen.« ...

»Bis zum Schluß hat mich die Frage bewegt, warum es im Zeugenhaus alles in allem doch recht ruhig zuging, warum in dieser wohl bizarrsten Hausgemeinschaft der frühen Nachkriegszeit kein offener Krieg unter den höchst unterschiedlichen Gästen ausbrach.« Und als Antwort: »... scheint es mir Ausdruck eines Phänomens zu sein, das die gesamte Nachkriegszeit prägen sollte: die absolute Sprachlosigkeit, die sich als dumpfer Nebelschwaden über die Ereignisse legte und für sehr lange Zeit eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Geschehenen verhinderte.« Es sind aber Zweifel angebracht, daß diese Zeit schon vorbei ist. Die letztlich ziemlich willkürliche Vermengung, Aneinanderreihung von historischen Fakten, Recherchebericht und kleinen, alltäglichen Geschichten, die mitunter kaum mehr als anzügliche Gerüchte sind, wird man jedenfalls schwerlich als »wirkliche Auseinandersetzung« bezeichnen können. Das Buch macht eher den Eindruck, daß es geschrieben werden mußte, weil bereits viel Arbeit drinsteckte. ¶


Christiane Kohl: Das Zeugenhaus. Nürnberg 1945: Als Täter und Opfer unter einem Dach zusammentrafen.
Goldmann, München 2005, 255 Seiten, € 21,90