Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Weimar
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Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach



Im Vorhof des Paradieses

von Manfred Kunz

Massenarbeitslosigkeit und die damit verbundene Angst vor sozialem Abstieg haben längst die Mitte der Gesellschaft erreicht. Auch im geistigen Zentrum des Würzburger Bürgertums, im Mainfrankentheater, bringen der Info-Tisch der Erwerbslosen-Initiative der Gewerkschaft ver.di und die Pausen-Performance der Gruppe SELAWÜ einen Hauch von Klassenkampf in die gespannt neugierige Premierenatmosphäre.

Anlaß solcher Irritation im Tempel bürgerlicher Selbstverständigung ist die Inszenierung des Dramas »Glaube Liebe Hoffnung« von Ödön von Horváth. Angeregt durch den Münchner Gerichtsreporter Lukas Kristl hat Horváth in der Endphase der Weimarer Republik das Schicksal einer »Abgebauten«, heute: einer »Freigestellten«, zu einem »kleinen Totentanz in fünf Bildern« verdichtet. In den collagenhaft montierten 60 kurzen und kürzesten Szenen erzählt er vom sozialen Abstieg eines einfachen Menschen, der sich im ökonomischen Überlebenskampf in den Schlingen einer inhumanen Bürokratie verstrickt.

Diesen Text aus den Jahren 1932/33, der wegen der Machtübernahme der Nationalsozialisten erst im November 1936 in Wien uraufgeführt werden konnte, holt das Inszenierungsteam um Gastregisseurin Franziska-Theresa Schütz mit für das Würzburger Theater ungewohnten, irritierenden, teilweise verstörenden Bildern in die Gegenwart. Und in einen bis zur Hinterbühne reichenden und seitlich offenen Bühnenraum, dessen kühle Leere im ersten Bild durch verstreut herumstehende, deutlich abgenutzte Polstermöbel kaum heimeliger wird. Bühnen- und Kostümbildnerin Birgit Remuß schafft eine Atmosphäre nüchtern-kalter Sachlichkeit, die eine Ästhetik aufgreift, wie sie etwa von der Berliner Volksbühne oder vom – eben wegen der Ästhetik dieser Tage bundesweit ins Gerede gekommenen – Schauspiel Frankfurt her bekannt ist. In diesem Raum bewegen sich Menschen ohne Gesicht, deren Individualität im Prolog vom nur knapp einen Meter geöffneten eisernen Vorhang, auf die untere Körperhälfte reduziert wird. Menschen, in einer trashig-schrillen Kostümierung, die Individualität nur vorgaukelt, statt sie zu unterstreichen; Menschen, die von Beginn an zu Nummern degradiert sind – gleichgültig, ob es die zehn Schauspieler aus dem Ensemble oder – stellvertretend für 18 810 weitere Schicksale – sechs Arbeitslose aus der Region Würzburg sind. Nummern weisen ihnen auch ihre Plätze in diesem ortlosen Wartessaal zum Glück zu, dessen Verheißung der riesige, knallbunte Schriftzug»Paradise« offenbart, der die Bühne nach hinten begrenzt – bildmächtige Symbole für den Zustand einer auf Zahlen fixierten Gesellschaft, die ihr utopisches Potential an den Rand gedrängt und alle Hoffnung auf ein paradiesisches Jenseits verlagert hat.

In dieser von Alexandra Holtsch mit metallenen Sounds dezent und effektvoll beschallten Kulisse entfaltet Horváths kleiner Totentanz eine faszinierende Sogwirkung. Natalie Forester verleiht dem Schicksal der arbeitslosen, wohnungslosen, von der Wohlfahrt ausgeschlossenen Elisabeth, die sich ohne Gewerbeschein als reisende Korsettvertreterin durchzuschlagen versucht, dabei mit den restriktiven Gesetzen in Konflikt gerät und nach einer Geldstrafe bzw. Gefängnisaufenthalt als vorbestraft gilt, eine distanzierte, wohlkalkulierte Intensität. Sie zeigt eine Frau auf der Abwärtsspirale, die an den wirtschaftlichen Verhältnissen und der Gleichgültigkeit ihrer nächsten Umgebung zerbricht und im versuchten Selbstmord den letzten Ausweg sieht. Niemand, vor allem nicht Männer wie ihr Ex-Verlobter, der Schupo Alfons (Christian Higer) oder der Präparator des Anatomischen Instituts (Klaus Müller-Beck), will dafür die Verantwortung übernehmen. Regungslos und gefühlskalt, distanziert und abwartend stehen die unbeteiligten Menschen-Nummern im Raum: unwillig zu reagieren und unfähig, Nähe herzustellen.

In diesen großflächigen, nahezu statischen und doch stilsicher choreographierten Personen-Tableaus, in die sich alle Ensemble-Mitglieder in zum Teil mehreren Rollen diszipliniert einfügen, beweist die Inszenierung ihre Qualität. Sie verweigert sich jeglichen Betroffenheitsgesten und aller Sozialromantik, sondern setzt ganz auf die schon in der schrillen Kostümierung angelegte optische Wirksamkeit und groteske, teils lächerlich wirkende, teils drastisch überzeichnete Szenenfolgen.

Daß dabei Horváths fragmentarische Text-Fetzen manches Mal in den Hintergrund treten oder die Sprache gelegentlich schwer verständlich bleibt, sei der Inszenierung nachgesehen. Verdienstvoller und wichtiger an diesem skurrilen Bilderbogen ist die für das Würzburger Mainfrankentheater radikal neue Ästhetik, die das hoch konzentrierte Publikum nach knapp zwei Stunden mit befreiendem Applaus und Bravos für Natalie Forester weit mehr als wohlwollend aufnahm. Ob aus schlechtem Gewissen oder aus Überzeugung ist eine genauso offene Frage, wie jene, ob die Inszenierung am Schicksal der Arbeitslosen etwas ändert bzw. ändern kann. Am Premierenabend jedenfalls fand der Klassenkampf im Mainfrankentheater nicht statt. ¶


Nächste Vorstellungen: 18. und 31. März, 1., 15., 21. und 23. April.

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