Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Weimar
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Ella Boulatova mit Schülerin Junwen Shan.
Foto: Wolf-Dietrich Weissbach

Nicht ohne meine Geige!

von Gabriele Antrecht

Die Welt der Musik ist einfach wunderbar. Wenn die Geigerin Ella Boulatova von dieser anderen Welt erzählt, dann klingt das wie die Beschreibung des Garten Eden. Mit eiserner Disziplin eroberte sich die in Moskau geborene Geigerin den Zugang zum Paradies.

Schon als Kind wurde sie dazu bestimmt, Geigerin zu werden. Seither vergeht wohl kein Tag, an dem sie nicht Geige spielt. Ihre ganze Kindheit und Jugend war diesem einen Ziel untergeordnet: Die Jugendliche übte zwölf Stunden am Tag und fand es einfach herrlich. Das ist also nicht die traurige Geschichte einer verlorenen Kindheit, sondern die Geschichte einer Frau, die von Musik niemals genug kriegen kann, die den Unterricht an den Moskauer Eliteschulen in vollen Zügen genoß, und die man eigentlich nur verstehen kann, wenn man sich auf eine Spurensuche begibt.

Die Spur führt in das Schtetl einer weißrussischen Provinzstadt. Dort wuchsen die Eltern der Geigenvirtuosin auf. Der Onkel ihrer Mutter war Profi-Klezmer-Musiker, und auch ihre Großmutter spielte leidenschaftlich gern Geige, »für sich, für die Seele«. Auch die Geigenvirtuosin, die von sich selbst sagt, daß sie hauptsächlich eine klassische Geigerin sei, versteht es immer wieder, das Publikum mit frei improvisiertem Klezmer in ihren Bann zu ziehen. Die Geige, sagt Boulatova, sei das Lieblingsinstrument des jüdischen Volkes. So hatte ihr Vater immer den Traum, daß sie einmal Geigerin werden würde. Und auch Ella Boulatova liebt das Streichinstrument über alle Maßen.

Nicht ohne meine Geige! Niemals würde sie ohne ihr Instrument in den Urlaub fahren. Jeden Tag übt sie. Ihre Geige ist ihr ständiger Begleiter, ihr Schutzengel und noch mehr: Sie ist die Eintrittskarte zur wunderbaren Welt der Musik. Selbst auf ihrer Reise in eine ungewisse Zukunft spielte sie Geige: »Wenn ich Geige spiele«, sagt sie, » weiß ich, daß der liebe Gott mir hilft.« Ja, ihr Schöpfer meinte es sehr gut mit ihr. Er schenkte ihr einen Garten, damit sie ihn bebaue und hüte. Die gläubige Jüdin nahm das Geschenk dankbar an: »Wenn Gott einem eine Begabung schenkt, dann sollte man sie wahrnehmen.«

Ella Boulatova wurde in Moskau geboren. Ihre Mutter war Lehrerin, der Vater Ingenieur. Als sie sechs Jahre alt wurde, schickte sie der Vater auf die Moskauer Musikschule für Kinder. Parallel dazu besuchte sie das mathematische Gymnasium Moskau. Auf Grund ihres absoluten Gehörs wurde das Mädchen dazu bestimmt, Musikerin zu werden. So begann sie bereits als 14jährige ihre berufliche Karriere in einer Moskauer Spezialmusikschule, in der besonders begabte Kinder gefördert werden. Sie genoß die Atmosphäre der Eliteschule. »Das war eine Welt voller Musik, zwölf Stunden am Tag nur Musik – das war genial.«

Mit 18 Jahren betrat Boulatova zum ersten Mal das berühmte Tschaikowsky-Konservatorium. An diesen Tag, vor allem an ihre weichen Knie, erinnert sich die Geigerin noch heute. Die weißen Flügel, die Porträts an der Wand und die Professoren aus einer anderen Zeit raubten ihr den Atem. Fünf Jahre studierte Boulatova bei dem damals schon beinahe 80 Jahre alten Professor Dimitri Zyganow und besuchte danach noch weitere drei Jahre Meisterklassen. Ihr alter Lehrer, der noch mit Sergej Prokofiev befreundet war und dem Dimitri Schostakowitsch mehrere Streichquartette gewidmet hatte, war wie das Tor zu einer anderen Welt.

Nach ihrer Ausbildung an der Moskauer Musikhochschule spielte Boulatova lange Jahre am Bolschoi-Theater sowie im Moskauer Staatlichen Symphonieorchester. Konzertreisen führten sie und ihren Mann, den Pauker Alexander Boulatov, nach Japan, Australien, Südamerika und durch ganz Europa.

Aus Angst um ihren damals 17jährigen Sohn, den sie nicht in den Tschetschenienkrieg ziehen lassen wollte, trat die Familie 1995 eine Reise ganz anderer Art an: in ein deutsches Heim für Aussiedler. Ihr Schutzengel, ihre Geige, begleitete Boulatova auf dieser Reise. »Musik ist eine eigene Welt, in der man lebt und völlig aufgeht.«

Die Geigerin übte im Zug, im Nürnberger Sammellager und im Würzburger Heim für Aussiedler. Würzburg? Nie gehört. Oder doch? Als die Einwanderer Ella und Alexander Boulatov in einem Nürnberger Sammellager diesen Namen zum ersten Mal hörten, gerieten sie ins Grübeln. In irgendeinem Zusammenhang hatten sie doch schon mal etwas von Würzburg gehört. Nach und nach dämmerte es ihnen: Aber ja, die guten Radieschen, die sie in ihrem 100 Kilometer von Moskau entfernten Garten angebaut hatten, waren nach dieser Stadt benannt. Auf die Erinnerung folgte eine kurze Schrecksekunde: Mit dem Symphonieorchester Moskau hatten sie fast die ganze Welt bereist, kannten auch alle größeren deutschen Städte und sollten nun ausgerechnet im »Reich der Radieschen« landen?

Die vierköpfige Familie fing in Würzburg bei Null an, teilte sich ein Zimmer im Übergangslager und paukte an der Euro-Sprachschule Deutsch. Und die Geigerin übte, suchte nach neuen Stücken und neuen Herausforderungen. Bevor sie auch nur ein Wort Deutsch konnte, spielte sie bereits als Aushilfe am Würzburger Stadttheater.

Nach fünf Monaten hielt sie es einfach nicht mehr aus. Sie zeichnete eine Geige auf ein Blatt Papier und ging damit zu ihrem Deutschlehrer. Wie heißen die Teile der Geige? Freunde gaben für sie ein Zeitungsinserat auf. Ihre ersten Privatschüler unterrichtete Boulatova mit Händen und Füßen. Eine ihrer Schülerinnen, die mittlerweile im Bundeswettbewerb »Jugend musiziert« spielt, kam damals schon zu ihr.

Die ersten drei Schüler, die sie an der Sing- und Musikschule unterrichtete, waren Kinder, die kein so perfektes Gehör hatten. Um auch diesen Kindern einen Zugang zu der wunderbaren Welt der Musik zu ermöglichen, ließ sich die Schülerin Zyganows etwas einfallen. Sie entwickelte eine Fingertechnik, mit der auch Kinder ohne absolutes Gehör sauber spielen können. »Ich möchte, daß jedes Kind schön spielt. Wichtig ist mir, daß die Kinder möglichst lange bei mir bleiben und mit mir mitgehen.« Aber der Weg zur Welt der Musik ist lang und stellt das Durchhaltevermögen eines Kindes auf eine harte Probe. Am Anfang dieses Weges steht ein Junge mit einem Geigenkasten in der rechten Hand und einem Fußball unter dem linken Arm. »Es gibt Millionen Möglichkeiten, zum Herzen eines Kindes vorzudringen«, sagt die Geigerin, die mit Fußball überhaupt nichts anfangen kann. Doch der Weg zum Herzen dieses Kindes führt nun einmal über den Fußball. Also schluckt die Geigerin die bittere Pille. Die Hoffnung, daß ihr Schüler vielleicht eines Tages das Tor zur anderen Welt erreichen wird, versüßt die Fernsehnachmittage im Zeichen des Fußballs. Was tut man nicht alles aus Liebe!

Manchmal führt der lange Weg bis zum Schloß am Horizont. Musikalisch hochbegabte Kinder fördert Boulatova im Rahmen der Frühförderung an der Musikhochschule. Für ihre Zöglinge tut sie beinahe alles, denn »wenn Gott einem eine Begabung schenkt, sollte man sie wahrnehmen«.

Ella Boulatova hat stets das eine Ziel vor Augen: Ihre Zöglinge sollen den Olymp erreichen. Aber wie bringt man sie dahin? Die russische Geigerin durchlief eine harte Schule: »Mein ganzes Leben bin ich strikt auf mein Ziel zumarschiert. Die russische Pädagogik fordert eiserne Disziplin. Für mich war das völlig normal, aber meine Schüler sind in einer anderen Kultur aufgewachsen. Die russische Pädagogik fruchtet hier nicht.«

Boulatova suchte nach einer Lösung: Ihre Schüler sollten die Geige lieben lernen, sollten, so wie sie, nicht ohne Musik leben können. Sie würde ihnen den Spaß an der Musik vermitteln und so der Sehnsucht nach der anderen Welt Nahrung geben.

Die Mission glückte: Liebevoll, mit viel Humor und Kreativität »fesselt« sie ihre Schüler an die Geige. Aus dem Mund der ambitionierten Lehrerin hört man häufig Sätze wie: »Es ist gut, daß sie ohne Musik nicht leben können.« Vor ihren Konzerten läßt sie den Blick auf der Suche nach ihren Schülern durch die Reihen schweifen. Die VIPs sitzen für gewöhnlich ganz vorn. Es scheint fast, als würde die Geigenvirtuosin in erster Linie für sie spielen. »Es ist gut, wenn sie mich spielen sehen«, sagt sie. Die Violinistin versteht sich als Vorbild, Lehrerin, Seelsorgerin und Freundin ihrer Schüler. Ihre Sprößlinge hegt und pflegt sie, es soll ihnen gut gehen, nichts darf ihr Herz drücken. Ein Kind, das Kummer hat, kann schließlich nicht Geige spielen. So dürfen ihre Schützlinge auch noch spät am Abend ihr Herz bei ihr ausschütten. Auf die »sanfte Tour« kriegt sie sie schließlich dahin, wo sie sie haben will – auf den Pfad, der geradewegs zum Schloß führt. ¶