Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und München
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Leonhard Frank. Porträt von Renate Jung.

Vom Stolpern
und Straucheln …

Zu Hans Steidles Leonhard Frank-Buch

von Berthold Kremmler

Vater, es wird nicht gut ablaufen

Die Segnungen der modernen Technik haben bewirkt, daß im Druckgewerbe altehrwürdige Berufe wie die Fliegen weggestorben sind. Am auffälligsten ist das Hinscheiden von Korrektoren und Lektoren. Flankierend ist dazugekommen, daß die neue Rechtschreibung für größtmögliche Unsicherheit gesorgt hat. Jetzt gibt es also niemanden mehr, der verbindlich bescheid weiß, wie das schon lange vor Herrn Duden die Setzer wenigstens wußten, und die Autoren sind bereits längst gezwungen, ihre Texte in einen druckfertigen Zustand zu bringen, und zwar in orthographischer wie stilistischer Hinsicht: so sehen sie auch aus. Dementsprechend befinden wir uns in einem Dauerhoch ungarer Druckerzeugnisse. Was die Satzfehler in dem neuen Buch von Hans Steidle über Leonhard Frank angeht, erübrigt sich der Einzelnachweis: sie wimmeln dem Leser auf jeder Seite geradezu entgegen. Stilistische Feinheiten werden bei Gelegenheit im folgenden für den Genießer herausgehoben.

Vater, es wird nicht gut ablaufen

Wer hatte nicht schon in der Schulzeit mit den Dimensionen seine Schwierigkeiten. Die mehrdimensionalen Räume der Mathematik – ein Hochgenuß, aber nur für starke Denker. Sie sich vorzustellen, macht erhebliche Schwierigkeiten, sobald man über die vertrauten Maße hinausgeht.

Für Leute, die lieber mit dem Herzen denken, sind die Fallstricke an allen Ecken und Enden, um nicht zu sagen: es tun sich Abgründe auf. Desto mehr, als das Herz ja nicht gerade den Ruf hat, ein trainiertes Organ für solcherlei Operationen zu sein. Wenn wir schon nicht recht wissen, wie sich das mit den Dimensionen genau verhält, wie kommen wir da erst ins Schleudern, sehen wir diesen Begriff mit dem Wörtchen »politisch« gekoppelt. Was wird mit der »politischen Dimension« wohl gemeint sein? Diese Frage drängt sich unwillkürlich auf, nimmt man dieses neue Buch über Hans Steidles Lieblingssujet in die Hand, den Schriftsteller Leonhard Frank. Frank hatte es in und mit seiner Geburtsstadt Würzburg von jeher schwer, und so ist allemal zu rühmen, wenn sich die Leonhard-Frank-Gesellschaft im allgemeinen und in ihr, als eine treibende Kraft, Hans Steidle im besonderen für sein Renommee einsetzen.

Er also möchte unsere Kenntnis und unser Verständnis dieser ›politischen Dimension‹ zusammenfasssen, erweitern und vertiefen. Folgerichtig widmet er sich in einem frühen kleinen Kapitelchen dem Verhältnis von »Literatur und Politik« (SS. 11–13, nicht 10–13, wie das Inhaltsverzeichnis angibt). Ein weites, ein unübersichtliches, ja ein komplexes und ausgesprochen schwieriges Feld. Bei einem solchen Gegenstand wird der erfahrene Autor, um sein Thema ordentlich zu erfassen und einzukreisen, bei klugen und noch erfahreneren Kennern Auskunft und Unterstützung suchen. Es böte sich zum Beispiel, als Einstieg, das berühmte »Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte« mit einem 60-seitigen Artikel, zweispaltig, an. Im 3. Band der 2. Auflage von 1977 ist der Artikel zum Thema von damaligen Altmeistern ihrer Zunft verfaßt; aktueller, aber wesentlich knapper ist die 3. Auflage von 2003. Oder, wenn’s eher ein Minimum sein darf, das Reclam-Sachwörterbuch zur deutschen Literatur von 1999, das den Vorteil relativ großer Zeitnähe hat und so die Schwierigkeiten seit dem Vietnam-Krieg verarbeitet – die Zeit, in der die politischen Implikationen ihres Tuns für die Schriftsteller von herausragender Bedeutung waren. Herr Steidle gibt als seine einzige Quelle als »Standardliteratur« an: das Sachwörterbuch des Kröner-Verlags, in einer Auflage von 1969 (jaja, die goldene Studentenzeit). Dagegen sind die alten Herren vom Reallexikon schon sehr reflektiert … Und was ist das Ergebnis? »Das Problem der Ästhetik und literarischen Bewertung besteht darin, ob die Tendenz, der Wille zur Kundgabe von Ideen, Überzeugungen und zur Beeinflussung die literarische Formgestaltung beeinflussen.« (S. 12) Alles klar?!

Soviel zur »politischen Dimension« – die Frage ist offen, ob der Begriff sich überhaupt aus seiner Schwammigkeit befreien läßt oder ob es nur unserem Autor nicht gelingt.

Vater, es wird nicht gut ablaufen

Das folgende Kapitel über »Leben und Werk: von Würzburg in die weite Welt« beginnt mit dem programmatischen Satz: »Die Beschäftigung mit der politischen Dimension im Werk eines Schriftstellers erfordert zunächst einen Überblick über Leben und Werk eines Autors.« (S. 13) Gut gebrüllt, Löwe. Jetzt erwarten wir uns einen Ein- und Überblick, in dem die Biographie Franks unter der Perspektive des politischen Verhaltens aufgerollt wird. Wir könnten einläßlich erfahren, was Leonhard Frank an wichtigen Stationen seines Lebens politisch getan hat, etwa vor seiner ersten Emigration zu Beginn des 1. Weltkriegs in die Schweiz, oder am Ende der Weimarer Republik, als er Mitglied der ›Sektion für Dichtkunst‹ der »Preußischen Akademie der Künste« wurde, bevor man ihn wieder hinausbeförderte (Hinweise dazu in »In jenen Tagen … Schriftsteller zwischen Reichstagsbrand und Bücherverbrennung«, Leipzig 1983, passim, wo auch aus Loerkes Tagebüchern zitiert wird – nicht gerade zum Ruhm von L. Frank). Leider erhalten wir nur Brosamen für unseren Informationshunger. Die politische Biographie Franks bleibt eine Schimäre.

Und das meiste dazu stammt aus dem autobiographischen Roman »Links wo das Herz ist«, dessen dokumentarische Qualität und Zuverlässigkeit allein schon dadurch in Mißkredit gerät, daß die Hauptfigur nicht Leonhard Frank heißt, sondern Michael Vierkant, eben die Person, die in der Räuberbande bereits Selbstmord begangen hat und jetzt also nachgerade ein Wiedergänger ist, bei jedem Detail also geprüft werden muß (vielmehr müßte), wieweit es factum oder fictum ist. Tatsächlich entscheidet Steidle freihändig, ob er etwas für authentisch hält (z. B. S. 66: »dass Frank (…) einen kriegstrunkenen Sozialdemokraten ohrfeigt, halte ich für authentisch«), freilich nicht ohne sich bei Werner Dettelbacher rückzuversichern.

Vater, es wird nicht gut ablaufen

Wie ist das Buch insgesamt angelegt und ausgeführt? Der Text ist in vier große Abschnitte eingeteilt; nach den »Grundlagen«, von denen schon die Rede war, folgen drei Großkapitel, die sich dem »Frühwerk«, der »Weimarer Republik« sowie dem »Exil und Alterswerk« widmen, also schön Werk, Leben und Zeitgeschichte mischen, ohne daß der Bezug zum »Politischen« gerade ins Auge spränge. So gibt es im Rahmen der »Weimarer Republik« eine »Reportage über Freuds Sexual-Psychologie …«. Die freilich gehört zeitlich gar nicht hierher, da sie von der Rezeptionsgeschichte in den 1950er Jahren handelt. Daraus ergibt sich eine spezifische Schwäche: die »Fülle der Gesichte« verführt den Verfasser immer wieder zu einem Mangel an Stringenz und klarer Gedankenführung, wie man sie sonst nur bei gesprochenen Texten kennt, die die Digression lieben. So kommt er unvermittelt auf Jehuda Amichais Würzburg-Roman und den Leidensweg Christi zu sprechen (S. 45), leitet dann über mit einem »Zurück zu Leonhard Franks Roman« (ibid.) und dessen »Kritik des ungerechten Gerichtswesens«, um im nächsten Abschnitt wiederum ein »Zurück zu Vierkants Metamorphose in den Fremden« vorzunehmen (S. 46). In erzählerischen Werken sind Digressionen sicher Abenteuer der Phantasie, hier deuten sie doch eher einen etwas mäandernden Gedankengang an.

Ähnlich ist es mit den Wiederholungen. Um nur ein besonders hübsches Beispiel zu geben: »Max Hermann-Neisse (…) wie bereits oben zitiert, aber es ist durchaus eine Wiederholung wert …« (S. 109). Das Zitat bleibt dieses Mal freilich ohne Stellennachweis.

Es mag dies beckmesserisch klingen – wäre es nicht für den Text so symptomatisch: auf Schritt und Tritt begegnen solche Lapsus und lassen den Leser verzweifeln, der dazu noch bei der Auswahl der Zitate von Leonhard Frank unsicher wird, ob dessen Stil ist wie der von Hans Steidle.

Noch eine kleine Kostprobe für den Stil, beliebig herausgegriffen: »Ich muss gestehen, dass mir der hyperbolische Superlativstil, die Übertreibungen und Steigerungen, an dieser Textstelle schon von unfreiwilliger Komik bestimmt vorkommen und der dichterische Verkündungswille sprachliche Kapriolen treibt.« (S. 73) Auf dieser Seite folgen wenig später Frank’sche Sätze, die an seiner stilistischen Meisterschaft wahrhaftig zweifeln lassen.

Es mag mit diesen Kostproben genug sein. Würde Steidles Text doch mit dem Umfang sich begnügen, den die ›Schriftenreihe‹ sonst pflegt: 30 bis 60 Seiten. Nur bei Schubert gibt es Längen, die göttlich sind …

Vater, es wird nicht gut ablaufen

Ein besonderer Graus erwächst aus dem Anblick des literaturwissenschaftlichen Handwerkszeugs.
Beginnen wir mit dem Gipfel der Fehlleistungen, bevor wir in die Niederungen der gewöhnlichen Schlamperei gelangen. Steidle erwähnt Frank als Mitarbeiter des Films »Niemandsland«. An drei verschiedenen Stellen (SS. 130, 131, 132) nennt er den Namen des Regisseurs, und alle drei Mal ist er falsch geschrieben: er heißt Victor Trivas, nicht Trivias; bei einem solchen Kenner der Materie unverzeihlich, denn als bloßen Schreibfehler läßt es sich bei der Häufung nicht mehr qualifizieren.

Die Bibliographie strotzt von Fehlern. Man kann sich bei vielen Stellenachweisen im Text fragen, ob die Zahlen hier falsch sind oder im Anhang.
Einige Beispiele: Wörtliche Zitate im Text werden nicht belegt und kommen auch in der Bibliographie nicht vor, so Bleuler (S. 48) oder Freud. Hier ist besonders peinlich, daß der Titel des Aufsatzes falsch zitiert ist, der heißt »Das Unbehagen in [nicht an!] der Kultur« (S. 54). Ob das wirklich nur eine Differenz für Freud-Kenner ist?! Novalis’ Werke (zitiert S. 41) sind im Anhang schlicht vergessen, aber sie passen auch überhaupt nicht an die Stelle und zum Thema.

Sämtliche Belege aus Zeitschriftenaufsätzen bzw. Rezensionen oder von Thomas Mann kennt der Autor anscheinend nur durch Sekundärliteratur, etwa von Heinz Neugebauer (von 1955!) oder Gerhard Hay, bei dem als Erscheinungsdatum mal 1982 genannt ist (in der Bibliographie und in der Werbung), mal 1991 (im Text SS. 139, 141). Peter von Matt kommt zwar im Text vor (S. 150), aber nur mit der vielsagenden Bemerkung »in verschiedenen Analysen«, die freilich nirgendwo nachgewiesen sind. Dem früheren Leiter der Universitätsbibliothek wird gar ein neuer Vornamen verpaßt: Gerhard (statt Gottfried) Mälzer.

All dies legt die unschöne Vermutung einer unsorgfältigen Kompilationsarbeit nahe.
So erfährt man auch nicht von einem Leonhard-Frank-Archiv bei der Berliner Akademie der Künste, das sich sicher zweckdienlich auswerten ließe (vgl. Armin Strohmeyers Nachwort zur Taschenbuchausgabe von »Links wo das Herz ist« von 2003, bes. S. 258), wohl aber, welche Überraschung, die Titel der Schriftenreihe der Leonhard Frank-Gesellschaft.

Vater, es ist nicht gut abgelaufen

»Kein Mensch muß müssen«, heißt es an einer berühmten Stelle. Daß das fürs Bücherschreiben und Veröffentlichen ganz besonders gilt, zumal, wenn die Kosten von einer literarischen Gesellschaft getragen werden, also von den Beiträgen seiner Mitglieder, versteht sich.

Aber wenn schon, möchte man dem Verfasser den Buchtitel des alten, wenn auch durch Adorno madig gemachten Pädagogikprofessors Bollnow ans Herz legen: »Vom Geist des Übens«, oder wie alle Trainer allüberall empfehlen: »Üben! Üben! Üben!« Und er sollte nicht vergessen, daß auch ein so genialer Pianist wie Walter Gieseking noch nicht einmal seine eigenen Ohren als Zeuge dieses Übens haben wollte und deshalb seine Geläufigkeit an einer Tastatur ohne Saiten perfektioniert hat. Nur Spitzenmannschaften im Fußball brauchen bei ihren Übungseinheiten Publikum.

In der Literatur läßt man am besten erst nach dem Tod die Verehrer sich über die Probeläufe hermachen. Sonst ergibt sich eine verblüffende und paradoxe Entwicklung: Ein sanftmütiger Leser bekommt durch die Lektüre eines Buches über einen pazifistischen Autor einen Sack von Aggressionen aufgebrummt. Wie aber wird er sie wieder los?!
Bequemer, knapper, eleganter wird man jedenfalls in den Nachworten von Heinrich Vormweg zu »Karl und Anna« (Reclam) und von Armin Strohmeyr zu »Links wo das Herz ist« informiert (Aufbau TB). Ob der ganze große Rest dieses Buches dem neugierigen Leser wirklich substantiell weiterhift? ¶


Hans Steidle: Von ganzem Herzen links. Die politische Dimension im Werk Leonhard Franks. Illustrationen von Jürgen Hochmuth. Würzburg, Leonhard Frank-Gesellschaft 2005 (= Schriftenreihe der Leonhard Frank-Gesellschaft Nr. 15)

www.leonhard-frank-gesellschaft.de