Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und in Odense
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Hans-Georg Noack (1926–2005)
Foto: Wolf-Dietrich Weissbach

Nachruf auf Hans-Georg Noack
(12.2.1926–15.11.2005)*

»Wir pflanzen hier Demut«

von Thomas Neumann

Wir haben ein Gedicht von Nelly Sachs (1891–1970) in die Traueranzeige zum Tod von Hans-Georg Noack aufgenommen, das ich Ihnen hier noch einmal vortragen möchte:

Wieder hat einer in der Marter
den weißen Eingang gefunden
Schweigen – Schweigen – Schweigen
Die innere Sprache erlöst
Welch ein Sieg
Wir pflanzen hier Demut

Nelly Sachs

An den Abenden, die ich am Krankenbett unseres Freundes verbrachte (ich möchte sogar sagen: verbringen durfte) – an diesen letzten Abenden kam mir dieses Gedicht, das so kurz ist, daß man es sich auch leicht merken kann, immer wieder in den Sinn.

Ich hoffte auf den »weißen Eingang« für HGN, wie er sich selbst gern abkürzte und wie auch wir ihn, sozusagen mit einem »Markenzeichen« bisweilen belegten. Ich hoffte (wie wahrscheinlich alle seine Freunde, die ihn seit Monaten am Krankenbett besucht hatten) auf ein sanftes Ende des Leidens, auf ein Ende seines »schlaflosen Traums«.

Die Lyrik von Nelly Sachs, eigentlich ihre ganze Dichtung, war geprägt von der Erfahrung des Dritten Reichs und des Holocaust, auch unser Gedicht läßt sich im Kontext von Auschwitz lesen. Und doch, es trifft auch die conditio humana überhaupt, es betrifft auch den Leidensweg des menschlichen Endes. Und es spricht auch eine – wohlverstandene – Hoffnung aus auf Erlösung, und sei es nur eine »Erlösung von« und nicht eine »Erlösung zu«.

Beide, Hans-Georg Noack und Nelly Sachs, haben je auf ihre eigene Weise auf das Dritte Reich reagiert; die Ältere (vom Terror Getroffene) mit ihrer Lyrik des Schmerzes, Noack, der deutlich Jüngere, noch in den letzten Kriegstagen einberufen und vor allem durch die Kriegsfolgen, Arbeitslager und Gefangenschaft, betroffen – er reagierte mit seinem Welt- und Selbstverständnis: Er wurde »Erzieher« durch das Wort.

Seine zweijährige Kriegsgefangenschaft in Belgien, die sich mit dem bekannten Hegelwort vielleicht als »List der Vernunft« auch für das individuelle Leben erwies, hat seinem Weg wohl die Richtung gegeben, die er dann – zum Segen seiner Mitmenschen – konsequent weiter verfolgte: Verständigung, soziales Miteinander, Aufhebung von Vorurteilen, all dies machte er seit dieser Zeit zu seiner Sache, als Übersetzer, als Organisator und bald darauf schon als Schreibender.

Die Erfahrung des Dritten Reiches, zwar von einer »anderen Seite« aus als Nelly Sachs sie erlebt hatte, mag ihn aber – nach dem Ende des Regimes – in seiner Persönlichkeit ebenso stark »gebildet« haben wie die Lyrikerin in ihrer eigenen Melancholie hierdurch geprägt worden ist. Die schreckliche Erfahrung von Diktatur, Krieg und Gefangenschaft hat – vielleicht – erst Hans Georg Noacks durchtragene, ihn und andere »tragende«, positive Weltsicht und vor allem seine grundlegend positive Menschen-Sicht ermöglicht, hat sein eigenes Menschenbild geprägt.

Und dieses Bild vom Menschen trägt ganz und gar »humanistische« Züge.

Sein Humanismus allerdings war nicht einer, der mit der Kenntnis der alten Sprachen und bloßer Gelehrsamkeit prunkt, schließlich waren die neueren, die »lebenden« Sprachen Französisch und Englisch, sein Metier. Sein »Humanismus« war praktischer Natur, und auch sein Schreiben war im eigentlichen Sinne Hinführung zur und Einübung in soziale Praxis.

Und dennoch: HGN blieb ein Einzelner, eigentlich sein Leben lang, jedenfalls solange wir es begleiten, man muß wohl eher sagen: »beobachten« durften. Seine sozialen Bezüge waren vor allem beruflicher, natürlich bisweilen auch rein freundschaftlicher Natur; eine »Beziehung« aber im engeren Sinne (wie man Partnerschaft heute neudeutsch gerne nennt) ist er nie eingegangen.

Ruhte er in sich? War er sich gar selbst genug?

Nein, das Bild des Weisen Diogenes in seinem einsiedlerischen Refugium paßt nicht auf ihn. Die ruhige Kontemplation war seine Sache eher nicht. Die Theoria als wissende Schau auf die Welt, diese Theorie überließ er den anderen.

Handeln, lebendige Tätigkeit, Aktivität, das sind die Begriffe, die wir mit Hans-Georg Noack verbanden und in der Nachschau immer noch verbinden. Über 5000 Lesereisen, das ist kein Pappenstiel, das war körperliche und geistige Anstrengung, das waren längste Autofahrten kreuz und quer nicht nur durch Deutschland. 28 Bücher zu schreiben, unzählige zu übersetzen, das muß ihm erst einer nachmachen. Und dazu (im Haupt- oder Nebenberuf?) noch einen Verlag zu leiten, klingt das nicht sehr nach workoholic?

Nein, Hans-Georg Noacks Aktivität war nicht um ihrer selbst willen da, sie war stets zielgerichtet auf Welt, vor allem aber auf die Welt des Menschen.
Er brauchte die Menschen, er brauchte vor allem junge Menschen.

Kinder und Jugendliche sind noch »auf dem Weg«, ihr Leben ist noch nicht »festgestellt«, sie sind in der Regel durch Offenheit, Aufbruch in Unbekanntes, durch Wollen und Handeln auf Zukunft hin bestimmt.

Waren sie somit auch ein Spiegel seiner selbst? Spiegeln seine so verschiedenen beruflichen Tätigkeiten (vom CVJM-Leiter, Dolmetscher, Privatsekretär, Konzertagenten zum Schriftsteller und Verleger) denn nicht auch seine »jugendliche« Haltung des ausprobierenden Wollens und Handelns wider, die wir bis ins hohe Alter an ihm schätzten? War dies vielleicht auch das »Geheimnis« seines Erfolgs nicht nur bei seinen jugendlichen Lesern, sondern auch bei seinen vielen »Schützlingen«, um die er sich kümmerte und die vielleicht nie eine Zeile von ihm gelesen haben?

Hans-Georg Noack sah die Welt des Menschen sinnbestimmt, und dieser Sinn lag für ihn nicht in einem »Wolkenkuckucksheim«, in fernen philosophischen oder theoretischen Idealen oder unerfüllbaren politischen Utopien. Den Sinn und Zweck des irdischen Daseins in der Endlichkeit unserer Welt erblickte er wohl vielmehr im konkreten, immer verbesserungswürdigen und verbesserungswerten Leben selbst.

Die menschlichen, sozialen Verhältnisse sind es nämlich, die Sorgen und Trauer, aber eben auch Hoffnung und Glück bedingen – und hier versuchte Hans-Georg Noack nach seinen Kräften und Möglichkeiten positiv und menschenfreundlich zu wirken.

In der Zeit leben wir für die Zeit, und Zeit ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit …

Hans-Georg Noack, so möchte man meinen, wußte dies und lebte dies – daher wohl auch seine Kraft, als »Solitär« gemeinschaftlich zu wirken. Daher wohl auch seine (für jeden Sehenden deutliche) Liebe zum Leben bis zum Ende – oder, genauer: fast bis zu seinem Ende. Die letzten Tage zeigten dem Besucher denn auch einen Hans-Georg »schlaflos träumend«, schweigend anwesend-abwesend und zeigten auf seiner Stirn eine Sorge und Trauer eingeschrieben, die er nicht mehr auszudrücken vermochte.

»Schweigen – schweigen – schweigen
Die innere Sprache erlöst
Welch ein Sieg«
, schreibt Nelly Sachs.

In der Nacht vor dem Tag, an dem er – ganz Körper, ganz entschwindender Körper – in eine Pflegestation verlegt werden sollte, hat er wohl »losgelassen« und hat aus der Marter seinen »weißen Eingang« gefunden. ¶


* Grabrede, gehalten am 22.November 2005

Dr. Thomas Neumann ist Vorsitzender der »Jugendstiftung Hans-Georg Noack« mit Sitz in Eisingen bei Würzburg