Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und in Odense
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»Lucifers Matches«
im Neunerplatztheater
alle Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Ein Märchenerzähler reloaded:

»Lucifers Matches«

Hans Christian Andersen für das 21. Jahrhundert

von Manfred Kunz

Es hatte ja so kommen müssen. Nicht im Frühjahr, zur 200. Wiederkehr seines Geburtstags am 2. April 1805, sondern erst ganz zum Ende des Andersen-Jahres taucht der dänische Erfolgsschriftsteller in den Spielplänen unterfränkischer Bühnen auf. Das dokumentiert einmal mehr die scheinbar unerschütterliche Fortdauer einer Rezeptionsgeschichte, gegen die sich Hans Christian Andersen noch kurz vor seinem Tod heftig wehrte: nur als Dichter für Kinder zu gelten und ausschließlich über seine Weihnachts- und Wintermärchen wahrgenommen zu werden.

Ganz offensichtlich in diese Klischeefalle getappt ist die Spessartgrotte in Gemünden-Langenprozelten mit der Bühnenadaption des berühmtesten Andersen-Märchens, »Die kleine Seejungfrau«. An einem neuen Zugang versucht sich dagegen seit dem 20. November das Würzburger Mainfrankentheater mit dem Märchenballett »Andersens Welt«. Zur Musik von Eric Satie entführt das Ballett in die realen Lebensumstände des Autors und sein fiktives, riesiges Märchenreich. Nach einer Erzählung der Ungarin Agnes Balázs hat Ballettdirektorin Anna Vita eine Choreographie geschaffen, die auf der Bühne die Biographie des Autors mit der Wirkung seiner Märchenfiguren verknüpft.

Noch einen Schritt weiter geht das Würzburger Theater am Neunerplatz. Dort haben Markus Czygan und Claudia Rath den Text »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern« komplett neu bearbeitet und präsentieren es seit dem 23. November unter dem Titel »Lucifers Matches« als ein »musikalisches Märchen für Erwachsene«. Ausgangspunkt ist das im Dänischen Volkskalender von 1846 erstmals veröffentlichte Märchen, das in seiner Verbreitungsgeschichte mindestens zwei unterschiedliche Lesarten nach sich zog: Einerseits diente es als Beweis für Andersens soziales Gewissen und sein Engagement für das Proletariat der aufkommenden Industriegesellschaft; andererseits wurde es als sentimentaler Versuch gelesen, tatsächlich vorhandenes Elend mit Hilfe einer aufgesetzten Pseudoreligiosität zu verklären.

Die Bearbeitung und Inszenierung von Czygan/Rath hält sich – und das ist schon das erste große Verdienst – von beiden Interpretationen fern. Sie gehen einen eigenen Weg, der die Traumsphäre, den surrealen Charakter der Geschichte betont. Das Autoren-/Inszenierungs-Duo erweitert das Märchen um eine fiktive Entstehungsgeschichte: Eines Abends erscheint der Teufel (Jörg Becker) persönlich in der Schreibstube des an sich selbst zweifelnden, krampfhaft um Einfälle ringenden Schriftstellers Andersen (Frido Schaff), verwickelt ihn in einen Disput über das Gute und das Böse im Menschen und in der Welt, und animiert Andersen damit zur literarisch gestalteten Antwort auf die versuchte Erschütterung seines Glaubensbildes. Er beginnt, »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern« zu schreiben – doch der Text entgleitet ihm zunehmend. Nicht nur, weil der Teufel immer wieder interveniert und die philosophisch-theologische Auseinandersetzung sucht.

Es ist der Schreibprozeß selbst, der immer neue Träume evoziert, der einerseits die imaginierte Figur des Mädchens (in Gestalt von Judith Beifuß) Wirklichkeit werden läßt, der anderseits die bittere Realität der sozialen Verhältnisse mit jedem entfachten Schwefelholz in surrealen Bildwelten aufhebt. Für die wiederum – und das als zweites Verdienst der Inszenierung – der von Magritte-Ästhetik inspirierte Bühnenraum und das gleichermaßen dezente wie opulente Lichtdesign die adäquate optische Umsetzung liefern. Gesteigert wird deren Wirkung durch eine extrem sparsame Gestik und eine kluge, fast choreographische Bewegungsregie. Getoppt, der saloppe Ausdruck sei hier gestattet, wird der visuelle Eindruck noch – und das ist das dritte und größte Verdienst der Produktion – durch die akustische Begleitung. Allein wie die vierköpfige Formation mit ihrem sukzessiven Erscheinen auf der Bühne Garvin Bryars’ Einlaßmusik »Jesus’ blood never failed me yet« vom Band unmerklich in die Live-Version überführt, ist mehr als das Ergebnis perfekter Probenarbeit.

So deutlich wie in allen eigens für das Stück entstandenen Kompositionen von Wolfgang Salomon die musikalische Handschrift erkennbar ist, so erkennbar einfühlsam – im Wechsel das Geschehen illustrierend oder kontrastierend, alternierend zwischen lebenslustigen Zirkusklängen und melancholisch-traurigen Blues-Stimmungen sind die Melodien und deren Interpretation. Die ist bei der aus Sylwia Bialas (Gesang), Birgit Förstner und Benjamin Thoma (abwechselnd am Cello), Martin Knorz (Piano) und WJO-Bandleader Markus Geiselhart (Posaune) bestehenden Combo in jungen Musikerhänden, die professionellen Ansprüchen mehr als genügen und dabei eine selbstverständliche Lockerheit und konzentrierte Spielfreude ausstrahlen. Sie setzen einer gelungenen Inszenierung das Sahnehäubchen auf und heben die Produktion als Gesamtkunstwerk auf Kultniveau. Also Leser, stürmt das Kassenhäuschen des Theaters am Neunerplatz! ¶


Nächste Vorstellungen:
1. bis 3., 7. bis 10. und 21. Dezember 2005 sowie
4. bis 7., 11., 13., 14., 26. und 29. Januar 2006.

www.theater-am-neunerplatz.de


Jens Andersen: Hans Christian Andersen. Eine Biografie.
Insel, Frankfurt a. M. und Leipzig, 2005.

Gisela Perlet: Hans Christian Andersen. Leben – Werk – Wirkung. Suhrkamp BasisBiographie 3, Frankfurt a. M. , 2005.

Hans Christian Andersen: Die Märchen. Drei Bände in Kassette.
Insel Taschenbuch 133. Frankfurt a. M.

Hans Christian Andersen: Märchen – Geschichten – Briefe. Ausgewählt von Johan de Mylius. Insel, Frankfurt a. M. und Leipzig, 1999.

Hans Christian Andersen: Märchen. Illustriert von Nikolaus Heidelbach. Beltz, Weinheim, 2004.