Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und in Odense
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Begleitend zur Ausstellung ist im Foyer des Museums: die Klang-Licht-Installation »2/3/5« von Kurt Laurenz Theinert (Licht) und Richard Spaeth (Klang). Die beiden spielten auch live zur Vernissage am 12. November.

Foto: Achim Schollenberger

Heinrich Heidersberger: »Triplum«
1955 (Rhythmogramm #3782/185); Sammlung Peter C. Ruppert

Grundsatzausstellung zur
konkreten Fotografie

Objektivierungen ohne Objektiv

von Jochen Kleinhenz

»Abstraktion verfährt reduktiv. Sie geht von einer komplexen Situation aus und gelangt durch zunehmendes Weglassen nicht wesentlicher Elemente zu den wesentlichen Elementen, zur ›reinen‹ Erkenntnis. Konkretion verfährt induktiv. Sie beginnt bei ›Null‹, bei einer Idee, bei einem Element, das sie mit anderen durch Regeln verknüpft, um so eine neue komplexe Situtation oder ein neues System zu schaffen. Man könnte sagen: Abstraktion wandelt Materie in Geist (abstrahiert und idealisiert ein Objekt), Konkretion wandelt Geist in Materie (konkretisiert und objektiviert eine Idee). …«

zitiert aus Gottfried Jäger: »Konkrete Fotografie«, Bielefeld 2005

Wie kommt es, daß – wie im Falle des »Konkreten« in der Kunst – einer der interessantesten, wenn auch umstrittenen Begriffe der zeitgenössischen Kunstdiskurse immer wieder aufs Neue ausgerechnet in Würzburg sein Podium findet? Nicht, daß man das der Stadt nicht zutrauen möchte – doch bei allem Werben für die Stadt als »eine Geschichte mit Zukunft« muß nüchtern konstatiert werden, daß die Bodenständigkeit hier in den meisten Fällen das Vorhandene (Vergangenheit) dem Möglichen (Gegenwart und Zukunft) vorzieht.

Umso begrüßenswerter, daß das Museum im Kulturspeicher zum Jahresbeschluß den sicheren Boden ansatzweise verläßt, um sich auf neues Terrain zu begeben; neu im Hinblick auf die Etablierung des Begriffs »konkrete Fotografie«, der sich zwar die Definitionen in den Texten von z. B. Theo van Doesburg (1930), Max Bill (1947) oder Max Bense (1965), nicht aber den Impetus teilt mit dem der Konkreten Kunst. Dieser war von Anbeginn an von den Künstlern und Zeitgenossen vor allem proklamatorisch nach vorne ausgelegt, der der konkreten Fotografie versucht nun, reklamatorisch in eine theoretische Klammer zu packen, was in der Vergangenheit nur als singuläre, experimentelle Praxis wahrgenommen oder ausgeführt wurde. Und: ansatzweise nur deshalb, weil, bei aller Aktualität des Begriffs »konkrete Fotografie« vieles natürlich so neu nicht ist – Exponate, die teilweise vor über 80 Jahren geschaffen wurden, legen Zeugnis davon ab. Darüber hinaus soll der Begriff nicht als stilistische, sondern als methodische Eingrenzung der genannten Phänomene verwendet werden.

Es ist naheliegend, daß einer der Brennpunkte bei der Etablierung des Begriffes in der hiesigen Sammlung Peter C. Ruppert für Konkrete Kunst liegt, genauer: in den fotografischen Werken, die wiederum Impulsgeber für das finale große Thema dieses Jahres im Erdgeschoß des Museums sind.

Die Ausstellung präsentiert einen umfassenden historischen, ästhetischen und konzeptionellen Überblick über die konkrete Fotografie. Bereits im Vorfeld ist dazu der passende, äußerst lesens- und beachtenswerte Katalog erschienen (dem das Eingangszitat entnommen wurde), mitherausgegeben von Beate Reese, die einen der drei programmatischen Texte beisteuerte.

Der reich bebilderte Band und die Ausstellung harmonieren in weiten Teilen – hochinteressant sind sie alle beide. Angesichts der faszinierenden, individuellen Versuche, das Licht als solches in den Mittelpunkt des schöpferischen Prozesses zu stellen, bar jeder äußerlichen Motive (wofür denn auch einige gar keine Kamera mehr benötigen und direkt mit lichtempfindlichem Material arbeiten), möchte man fast fürchten, daß unter einem Sammelbegriff »konkrete Fotografie« ja auch die Poesie der bisherigen Zuordnungen in den Hintergrund geraten könnte. Luminogramm oder Chemigramm, Lichtmalerei oder Cliché verre, Schadografie oder Rhythmogramm: Diese Begriffe verweisen zumeist auf die Praxis, benennen den technischen Prozeß der Entstehung und Ausführung, verraten die Hilfsmittel und Zutaten zum Erzielen der Lichtbilder.

Aber die Furcht ist unbegründet. Denn auch zukünftig wird man nicht umhin kommen, den oft namenlosen oder seriell durchnumerierten Werken zumindest noch im Untertitel eine ergänzende Bezeichnung zur Seite zu stellen.

Die Schau im Kulturspeicher beginnt mit einem Rundgang durch die fotografischen Experimente des 20. Jahrhunderts im ersten Raum und mündet in der Jetztzeit im zweiten. Hier könnte man monieren, daß die Verteilung der Arbeiten eine ungleiche Wahrnehmung in der Gewichtung der Ausstellungsstücke provoziert, denn im ersten Raum reihen sich die vermeintlich historischen oder archetypischen Arbeiten ordentlich hintereinander an den Wänden, während sich die Gegenwartskunst im zweiten obligatorisch raumgreifend gibt.

Dieser Eindruck einer weitgehenden Trennung von gestern und heute wird unterstrichen durch die Tatsache, daß die überwiegend in Schwarz/Weiß gehaltenen Bilder im ersten Raum, mit dem teilweise starken Korn der Exponate vage historisch oder dokumentarisch anmuten, Farbe (und damit einhergehend das Empfinden einer aktuellen Bildsprache) dagegen den zweiten Raum dominiert. Man sollte sich aber davon nicht beirren lassen, weil diese Kritik aus dem subjektiven Empfinden des Autors resultiert – und die Jahreszahlen unter den Bildern ja oft etwas anderes aussagen.

So ließe sich die Ordnung der zwei Räume auch anders umschreiben: Im ersten findet sich eine Vielzahl an Bildern, auf die das Eingangszitat mit der Definition der Konkretion als Objektivierung einer Idee absolut zutrifft. Sie geben teilweise sogar reichlich Informationen preis über den Entstehungsprozeß, wie etwa Fotogramme, bei denen Gegenstände aus Glas oder nicht-transparenten Materialien anhand ihrer Silhouette benannt werden könnten; aber auch kompliziertere Techniken, die visuell nicht so leicht greifbar sind wie chemische Eingriffe oder das Anlegen elektrischer Spannungen, lassen noch erahnen, mit welchen Mitteln die Künstler zu ihren Ergebnissen gekommen sind. Dabei steht aber nicht der schöpferische Ausgangspunkt, sondern das ästhetische Endprodukt im Fokus der Betrachtung. Unschärfen, organische Formen, weiche Übergänge von Weiß zu Schwarz stehen im Wechsel mit kontrastreichen, klar akzentuierten Formen. Der Arbeitsprozeß der Künstlerinnen und Künstler ist hier weitgehend abgeschlossen, die Resultate dienen nicht nur als Dokumentation der künstlerischen Arbeit, sondern auch als Ausgangspunkt für weitergehende Gedanken bei der Betrachtung, frei nach dem Diktum, daß konkrete Kunst und Fotografie erst durch den Betrachter in dessen Kopf vervollständigt werden. Dabei lohnt sich einmal mehr der Blick in den Katalog, um z. B. einen Blick auf Heinrich Heidersbergers »Rhythmographen« werfen zu können, der Apparatur, mit der er seine Rhythmogramme direkt auf fotografisches Material zeichnet.

Im zweiten Raum sind die vorgenanten Definitionen nur eingeschränkt anwendbar. Am deutlichsten wird hier spürbar, daß der Begriff »konkrete Fotografie« als Benennung einer Methode, nicht eines Stils dienen soll: Es genügt nicht mehr der bloße Augenschein, um die Kunstwerke weiterdenken zu können – ein bißchen Hintergrundwissen zu den theoretischen Konzepten ist hier von Vorteil, nicht zuletzt, weil der künstlerische Prozeß bereits in einem viel früheren Stadium dargestellt wird als bei den anderen Werken. Exemplarisch kann man das an Nikolaus Koliusis’ Arbeit »dein Licht ist mein Schatten« nachvollziehen, einer umgehbaren Installation mit Filterfolie. Hier muß das Dargestellte jedesmal neu erschaffen werden durch den Betrachter.

Die Ausstellung als Ganzes ist bisher einmalig und von internationalem Rang, dem auch die Zweisprachigkeit des Begleitbandes »Konkrete Fotografie«, in dem die drei ausführlichen Texte von Gottfried Jäger, Rolf H. Krauss und Beate Reese auch in englischer Sprache abgedruckt sind, Rechnung trägt. Und Würzburg ist mal wieder ganz vorne dabei – das letzte, in seiner internationalen Bedeutung vergleichbare fotografische Großereignis dürfte die Entdeckung der Röntgenstrahlen gewesen sein. Und zwar nicht deswegen, weil das allseits bekannte Motiv der Knochenhand mit dem Ehering im Ansatz formale Ähnlichkeiten aufweist mit manchen der heute gezeigten Exponate. ¶


Fotografie konkret – Konkrete Fotografie.
Mit Licht gestalten.


Ausstellung im Museum im Kulturspeicher, Würzburg
13. November 2005 bis 8. Januar 2006

Werke von Theodor Bally, Monika Baumgartl, Kilian Breier, Richard Caldicott, Pierre Cordier, Christoph Dahlhausen, Inge Dick, Adam Fuss, Hein Gravenhorst, Franco Grigniani, Heinz Hajek-Halke, Heinrich Heidersberger, John Hilliard, Karl Martin Holzhäuser, Roger Humbert, Gottfried Jäger, Peter Keetman, Gyorgy Kepes, Gunther Keusen, Nikolaus Koliusis, Nathan Lerner, René Mächler, Dóra Maurer, Uwe Meise, László Moholy-Nagy, Ugo Mulas, Floris M. Neusüss, Neil Reddy, Christiane Richter, Tim Otto Roth, Jaroslav Rössler, Arthur Siegel, Otto Steinert, Kurt Laurenz Theinert, Luigi Veronesi und Ryszard Wasko.


Begleitband zur Ausstellung:
Gottfried Jäger, Rolf H. Krauss und Beate Reese:
Concrete Photography – Konkrete Fotografie.
256 S. mit zahlr. Abb., Kerber Verlag Bielefeld, 2005.


www.kulturspeicher.de