Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Euerhausen
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Foto: Jochen Kleinhenz

Gesamtkunstwerke aus Buchstaben

von Manfred Kunz

Handverlesene Texte werden bei Christian Ewald zu handgemachten Büchern: Aus Lettern, die noch in Blei gegossen sind, werden in seiner Werkstatt Bücher, im Buchdruck gedruckt und vom Buchbinder im Handeinband angefertigt. Der Berliner Kleinstverleger pflegt eine Leidenschaft, die selten geworden ist in der deutschen Buchlandschaft: die Herstellung »bibliophiler« Bücher, eine einzigartige Kunst, die ausgewählte literarische Inhalte in einer jeweils individuellen typographischen Gestaltung und Ausstattung vorstellt.

Zweimal im Jahr – wenn die Blätter kommen und wenn sie fallen – erscheint eine deutsche Erst-Ausgabe. Der Verlag trägt den Namen seines Ortes: »Katzengraben-Presse«, nach einem der ältesten Häuser in Berlin, dem 1683 erbauten, inzwischen aufwendig restaurierten Haus Am Katzengraben 14 in Köpenick.

Seit Herbst 1990 betreibt der gelernte Schriftsetzer Ewald dort seinen »Anderthalb-Mann-Verlag«. Jedes der Bücher erscheint in einer einmaligen und numerierten Auflage von 999 gedruckten und 99 handgeschriebenen Exemplaren, jedes in japanischer Blockbindung von Hand gebunden, numeriert und – Markenzeichen des Verlages – mit einem eingenähten Faden versehen.

Reich wird man mit solch einem Verlag natürlich nicht. Ewald arbeitet »nebenher« als Graphiker; der Verlag ist gleichzeitig mehr als ein Handwerk: Dahinter steckt eine ganzheitliche künstlerische Philosophie, die jedes einzelne Buch als geistige Kostbarkeit betrachtet, dem mit Achtung zu begegnen sei. So sind selbstverständlich die Umschläge liebevoll gestaltet, die Einladungen zu Veranstaltungen ebenfalls künstlerische Kostbarkeiten und sogar die Rechnungen sind mit der Feder geschrieben. Ja, selbst die »Pressemappe« – neben eigener Anschauung Grundlage dieses Textes – ist ein so noch nie gesehenes, handwerkliches und ästhetisches Meisterwerk.

Dreimal schon, zuletzt im Dezember 2003, stellte Christian Ewald seinen Verlag und die lieferbaren Bücher seines Programms im Winterhäuser Wortraum vor. Wobei die Begriffe »Vorstellung« oder »Lesung« das Gebotene höchst unzulänglich beschreiben. Und auch die Wortkombination »szenische Performance« hat durch allzu häufigen Gebrauch einen etwas schalen Beigeschmack, kommt aber dem Geschehen bei den Live-Auftritten von Christian Ewald noch am nächsten. Er »lebt« sein ausgefallenes Programm sprichwörtlich »vor« und fasziniert sein Publikum durch überraschende und skurrile Ideen immer wieder neu. In seiner Person bündeln sich Leidenschaft und künstlerische Talente zu einem Gesamtkunstwerk ganz eigener Art. Und das in einer freundlichen Selbstverständlichkeit, die über den Tag hinaus in unvergeßlicher Erinnerung bleibt.

Die nächste Chance, diesen sympathischen Perfektionisten zu erleben, besteht am 23. September im Wortraum in Winterhausen. »Märchen und andere schillernde Sachen« ist der Titel des zweiteiligen Abends, deren erster Teil sich dem Phänomen widmet, daß die Lesbarkeit der uns bekannten Wörter trotz der Verstellung von Buchstaben erhalten bleibt. Die bibliophile Edition dieses Lese-Experiments wurde in Elke Heidenreichs Sendung »Lesen!« am 12. April 2005 vorgestellt und hinterließ einen wahren »Bestellstrudel«.

In Winterhausen werden jetzt einige Passagen in der Lautsprache der Umstellung gelesen und mit sehr einfühlsamen Klarinetten-Sound – jazzig bis romantisch – von Otto Kaplan live begleitet. Im Anschluß folgt, in einer Ur-Aufführung, ein eigens für den Wortraum geschriebener Text, der die Fensterfassaden zweier Häuser in Weimar zum Handlungsort macht. Die Sonntagsfassaden beider Fensterfronten bergen für fast jedes Fenster eine Geschichte, die alle untereinander beim Öffnen und Schließen verbunden sind. Dabei tauchen unterschiedliche Personen mit ihrem je ureigenen Sprachbild auf; unterlegt wird dieses Sprachtableau ebenfalls mit musikalischen Einsprengseln und solistischen Kapricen das Architekten und Musikers Kaplan. ¶


Christian Ewald:
»Märchen und andere schillernde Sachen«
Freitag, 23. September 2005, 20 Uhr

Wortraum, Hauptstraße 5, 97286 Winterhausen
www.wortraum-winterhausen.de