Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Euerhausen
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Rita Kuhn
Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Künstlerportrait: Rita Kuhn

»Man muß Farbe bekennen … «

von Angelika Summa

Malerinnen gibt es in Würzburg viele. Eine Rita Kuhn gibt es nur einmal. Sie ist nämlich die Künstlerin, deren Leben und Werk wirklich untrennbar mit Würzburg verbunden ist. Weil sie hier viel erlebt hat und spannend zu erzählen weiß, taucht man zwangsläufig im Gespräch mit ihr in die Stadtgeschichte ein. Sie hat die verbrannten Trümmer und »barocken Bauskelette« gezeichnet, aber auch die »schönen Ecken« Würzburgs. Sie hat das Häusermeer der Nachkriegsstadt gemalt, Würzburgs Bewohner und Persönlichkeiten porträtiert und vielfältige Erlebnisse wie beispielsweise Künstlerfeste ins Bild gesetzt. In ihrem Atelier in der Franziskanergasse stapeln sich die Bilder wie in einem überfüllten Museumsdepot: Blumenbouquets und Stilleben neben abstrakten Hinterglasbildern, kosmische Räume neben kritischen Aussagen.

Und immer wieder Aktuelles und Erinnerungen, Skizzen, Aquarelle und Fotos, Zeitungsausschnitte, Notizen, Briefe und Bücher, Bücher, Bücher. Es gibt kaum ein Thema, zu dem die belesene Dame mit dem wachen Geist und dem ungebremsten Interesse am Tagesgeschehen keine Stellung bezieht, sei es Politik oder Religion, Wirtschaft oder Literatur, die Kunst im allgemeinen und in den ganz speziellen Würzburger Verhältnissen. »Man muß Farbe bekennen«, sagt sie des öfteren. »Speichellecker oder Kratzfüßler« kann sie nicht leiden.

Rita Kuhn wird am neunten Oktober 89 Jahre alt. Sie kokettiert nicht mit ihrem hohen Alter, obwohl sie durchaus das Recht dazu hätte: Die Künstlerin ist immer noch »fit wie ein Turnschuh«, wie man so salopp sagt. Jedenfalls wirkte sie nach dem fast vierstündigen Gespräch kaum mehr ermüdet als ihre Fragerin.

Farbe bekannt hat Rita Kuhn ein Leben lang. Und ist damit natürlich auch angeeckt. Vielleicht auch deshalb hat sie das Gefühl »sich alles hart erarbeiten und erkämpfen zu müssen«. Astrologiekundige können eventuell auch mit folgender Erklärung etwas anfangen: Wer wie Rita Kuhn, 1916 in Arnstein geboren, »drei Trigone hat und Saturn im ersten Haus«, muß sich »alle Wege selbst erschließen«.
»Ich war ein schwächliches, dürres Mädchen«, erzählt sie. Als letztes von acht Kindern wurde sie zwar auch »verhätschelt«, aber die fehlenden materiellen Möglichkeiten erlaubten nicht die Ausbildung ihrer künstlerischen Neigung. Für ihre Eltern war dieses Thema »abgehakt«. Als sie mit fünf einen Aquarellkasten von ihrer Tante geschenkt bekommen hatte, hatte sie dieses Schlüsselerlebnis. Von da an »gärte es«, von da an wußte sie, daß es noch etwas anderes gab »als diese Armut«. Seitdem wollte sie »dieses Innere zum Klingen bringen« und hat sich nicht abschrecken lassen. »Wenn Sie Malerin werden wollen, müssen Sie auf alles verzichten«, prophezeite ihr ein befreundeter Bildhauer aus Heidingsfeld einmal. »Das kann ich«, war ihre Antwort. Und erreichte mit Mut, Beharrlichkeit und viel Energie, aber auch auf Umwegen ihr Ziel.

Denn zunächst mußte sie Geld verdienen. Nach ihrem Abitur 1935 bei den Englischen Fräulein begann sie »mit dem größten Widerwillen und völlig unbegabt« eine Lehre als Schneiderin. Der mit echten Biedermeiermöbeln ausgestattete Laden der Meisterin war exquisit; es gab lediglich vier adlige Kundinnen. Rita Kuhn erzählt noch heute entsetzt davon, wie sie bis spät in die Nacht hinein 16 Meter Rüschen auf ein Ballkleid zaubern mußte. Zwar schloß sie die Lehre mit »Sehr Gut« ab, entschloß sich aber nach ihrem ersten Monatslohn von nur 30 Mark (»Kuhn, davon kannst du nicht leben«) zur Kündigung und erhielt 1938 durch Zufall eine Anstellung in der Rechnungsabteilung bei Ebert und Jacobi, wo sie, da der damalige »Chemie- und Drogengroßhandel« Apotheken und Ärzte belieferte und in Kriegszeiten lebenswichtig war, dann auch dienstverpflichtet wurde und bis Kriegsende blieb. Die acht Jahre hat sie als »trostlos« erlebt. Viele Umstände waren vielleicht auch ein Glück für sie. Wenn z. B. ihr damaliger Chef den mehrmaligen Befehl vom Arbeitsamt, sie solle sich endlich zum Nachrichtendienst an die Front (»solche Frauen nannte man Soldatenmatratze«) melden, dadurch abbügeln konnte, daß er ins Telefon bellte: »Frau Kuhn ist hier unabkömmlich!« Er war Oberstleutnant und durfte das.

Und das Glück war mit ihrer inneren Stimme eng verknüpft. Als z. B. die junge Frau, die damals in der Domstraße, im Hause Schlier, wohnte, den dortigen Luftschutzkeller mit der knarrenden Treppe aus dem 16. Jahrhundert mied, weil sie genau spürte: »Das wird meine Todesfalle.« Am 16. März 1945 übernachtete Rita Kuhn bei ihrer Schwester, die im Luitpoldkrankenhaus Bau IV als Nonne Dienst tat. Die Domstraße wurde von den Bomben getroffen.

Auch den »tagtäglichen Stumpfsinn« überlebte sie, zumal sie mit noch zwei Freundinnen, Hanne und Ruth, beide sehr intelligent und musisch begabt, ihre Freizeit gestaltete. Das Trio opponierte innerlich gegen das Nazi-Regime – »wir haben es gemeinsam überstanden«. Sofort nach ihrem Abitur hatte sich Rita Kuhn beim »Polytechnischen Verein« zum Unterricht in Freihandzeichnen, Akt und Ölmalerei angemeldet und blieb dort immerhin 10 Jahre lang. Diese Abendkurse haben sie befriedigt, sie waren für sie mehr als nur Ausgleich, sie waren lebensnotwendig, wie ein Rettungsanker. Dort lernte sie Gleichgesinnte wie ihre Kollegin Ilse Selig kennen. »Jeder hat eine gewisse Disposition in sich«, meint die Künstlerin. »Je eher man seine Anlagen erkennt, desto eher kann man seine Persönlichkeit entwickeln. Erkenne dich selbst, sagt der Philosoph.« Und nach dieser Devise hat Rita Kuhn ihr Leben lang gehandelt.

Nachdem Würzburg bombardiert und alles verbrannt war, wagte Rita Kuhn den nächsten großen Schritt: Sie bewarb sich »zitternd«, wie sie sagt, bei der Malerin Gertraud Rostosky (1876–1959), »die ich schon immer verehrt habe«. Um so erstaunter war sie, daß die Rostosky sie »mit offenen Armen empfing« (»Kindchen, warum bist du nicht schon früher gekommen, du hättest bei mir wohnen können« …). Die Herrin der »Neuen Welt« war »immer heroisch, eine starke Persönlichkeit«, aber »sie hatte keine pädagogischen Fähigkeiten«, habe »nur Lichtblicke« weitergegeben. »Sie müssen den Betrachter ins Bild hineinführen«, sagte sie lediglich und bestand auf der Beachtung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund.

Rita Kuhn blieb nicht Schülerin, sie wurde Sekretärin der großen Würzburger Malerin, die ihr die »Chronik der Neuen Welt« in die Feder diktierte, ihre Vertraute und Freundin und manchmal auch ihr Modell. Im Atelier hängt noch ein Porträt von Rita Kuhn, 1953 von Gertraud Rostosky gemalt. Und ein Porträt Rostoskys, das umgekehrt die Schülerin drei Jahre später angefertigt hat. Neben den Bildern gibt es Fotos und Briefe und Erinnerungen: an die konfliktreiche Beziehung zwischen Rostosky und Max Dauthendey, die jour fix-Tage als gesellschaftliches Ereignis, an die Großzügigkeit und die Gastfreundschaft der Gastgeberin, die selbst durch die Inflation 1922 alles verloren hatte. Gertraud Rostosky vermachte später ihre gesamte Habe hauptsächlich der Stadt Würzburg.

Auf dem Gut »dort oben« lernte Rita Kuhn viele interessante Menschen kennen, Künstler, Journalisten und Literaten und Ludwig Röder, den 1993 verstorbenen Dichter und Pazifisten, der ebenso wie sie zum Zeichenunterricht kam und zu ihrem Lebensgefährten wurde. Über ihn fand Rita Kuhn Zugang zur Astrologie. Schon Jahre vorher hatte sie im Traum eine hohe, dunkle Männergestalt gesehen, mit der »viel Schicksalhaftes verknüpft« war. Erst als sie Ludwig Röder gesehen hatte, konnte sie diesen Traum deuten. Die Beziehung hielt bis zum Tode des Schriftstellers. »Wir waren beide sehr vernünftig«, sagt Rita Kuhn heute, »wir haben uns nicht überfordert.« Bei dem Thema Ehe ging sie »immer auf Distanz« und sagt mit einem kleinen kritischen Hinweis auf das Paar Rostosky/Dauthendey: »Die Frau ist immer diejenige, die das Ende abbremsen muß.« Diese Distanz ist wahrscheinlich auch ihrem großen Ziel, der Kunst, geschuldet.

Rita Kuhns erste Ausstellung war 1947 im Rathaus von Ochsenfurt; sie verkaufte ein Stilleben, das Bild einer Christrose, das jemand als Rostosky-Arbeit bezeichnete, für 50 Mark. Der Käufer stotterte den Betrag in Fünfmarksraten ab. Die letzte Ausstellung der Künstlerin war 2000 in der Otto-Richter-Halle, in der sie einen Überblick über ihr Schaffen von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zeigte. Die Künstlerin macht auch heute noch Landschaften, Stilleben, ihre »kosmischen Bilder« und Porträts. Schwierigkeiten mit der Bezahlung hatte sie bis jetzt nur ein einziges Mal. Freilich haben sich die Zeiten auch geändert, sind nicht besser geworden.

Der Verkauf lief in den Nachkriegsjahren: Ratsherren haben gekauft, Regierungsleute für die Regierungszimmer, der Architekt Schlick für die Schulen. »Der Bedarf an Bildern ist heute leider gedeckt«, meint sie. Die Stadt hat kein Geld, der Stadtrat kein Interesse, »freilich ist auch der Zeitgeist ein ganz anderer. Heutzutage gibt es ganz andere Begrenzungen«.

Rita Kuhns Weise, dem Wesen der Dinge auf den Grund zu gehen und diesen Eindruck in Farbe oder zeichnerisch zu erfassen, fand und findet heute noch Anklang. Bis in Sammlerkreise. Ein Sammler kam aus Oslo. Er wurde über eine Ausstellung im Spitäle auf die Künstlerin aufmerksam. Ein Sammlerehepaar kam aus der Schweiz. Beide haben Impressionisten gesammelt, der Norweger besitzt ungefähr zehn Rita Kuhns. Die Dame aus der Schweiz verliebte sich in den »weiblichen« Michael von Riemenschneider auf der Festung. Worauf die Künstlerin ihn skizzierte und als Hinterglasbild einen Meter zwanzig hoch anfertigte. Von den Schweizern hat die Künstlerin leider schon lange nichts mehr gehört. »Ich bin schuld«, sagt sie. Die Schweizerin war sehr mondän und schickte immer Schokolade. Wegen eines Kuraufenthalts konnte sich die Künstlerin aber erst Monate später für die Gabe bedanken. »Das war Majestätsbeleidigung.« ¶