Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Gambach
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Hans Reichel: Selbstbildnis
1947, Kreide und Deckfarbe
Sammlung Kulturspeicher Würzburg

Reichel oder
die Andacht zum Kleinen

von Gertrude von Schwarzenfeld

Das malerische Werk von Hans Reichel ist für mich gleichfalls so ganz mit der Persönlichkeit seines Schöpfers verbunden, daß ich Werk und Person nicht trennen kann. Ich sah Reichels Bilder zum ersten Mal in der Galerie Jeanne Bucher, die wie eine Insel des Friedens inmitten des lärmenden Boulevard de Montparnasse liegt: Ich ging durch einen kleinen Vorgarten, betrat ein kleines Haus und sah an den Wänden von zwei kleinen Zimmern viele kleine Bilder.
Das kleine Format wird heute gering geschätzt, aber es kann eine Konzentration besitzen, die auf großer Fläche oft verlorengeht. Die kleinen Aquarelle Reichels erinnern zunächst an Klee und an seine ›Andacht zum Kleinen‹, aber sie haben ein eigenes Fluidum, das die formale Ähnlichkeit mit den Mustern Klees vergessen läßt. Es sind leicht getönte Blätter, die eine Unterwasserwelt von Tiefseefischen und Phantasiepflanzen andeuten – Gezeiten der Farbe, die von Blau zu Violett abklingen und über Rot und Rosa in Helligkeit zerfließen.
Wie ein Kontrapunkt zu dieser zarten Farbmusik wirkt die Persönlichkeit des Künstlers: Bei der Vernissage saß er, breit und gewichtig, in einer Ecke des Zimmers, die durch ihn zur Mitte der Ausstellung wurde. – Welch ein Gesicht! Von Lebensrunen durchfurcht, aber auch das Gesicht eines Träumers, der im Nichtstun schafft. Ich setzte mich zu ihm wie zu einem starken, alten Baum und fühlte mich in eine Lebenssphäre einbezogen, in der die Sprache nicht das wichtigste Ausdrucksmittel ist. Aber auch nicht die Malerei. Die Malerei ist ganz unwichtig, dachte ich, im letzten entscheidet der Mensch.
Ein Gespräch mit Reichel ist ein Erraten eher als ein logischer Wortwechsel. »Sie stammen aus Österreich?« fragte ich, von etwas Heimatlichem berührt. – »Nein, aus Würzburg«, antwortete er. Aus einer kleinen Biographie, die er mir reichte, erfuhr ich seine Lebensdaten: 1892 in Würzburg geboren, in jungen Jahren der Dichtung zugetan, 1918 Begegnung mit Rilke; 1919 Begegnung mit Paul Klee und 1924 mit Kandinsky in Weimar, Freundschaft mit Walter Gropius und Einfluß der abstrakten Bauhaus-Ästhetik. Doch die Überbetonung der Theorie, die im Bauhaus gepflegt wurde, erwies sich bald als wesensfremd. Vertrieb ihn, den Lyriker, der Geist der ›Neuen Sachlichkeit‹ aus Deutschland? 1928 kam Reichel nach Paris und wußte, noch ehe er aus dem Ostbahnhof hinausging, daß er diese Stadt nie mehr verlassen würde. Er blieb. Nach Kriegsende erhielt er die französische Staatsbürgerschaft.
Die ersten Pariser Jahre waren eine Zeit der Entbehrung und der Einsamkeit. Henry Miller, dieser große Lebenshungrige, war einer der ersten, der von der inneren Fülle Reichels angezogen wurde; er besuchte ihn oft in dessen Hotel, ›das nicht ganz und gar baufällig war‹. Später wohnte Reichel in der Nähe der Villa Seurat, in der Miller mit seinen Freunden hauste. ›Reichel lebte erschreckend abgesondert und allein‹, schreibt Miller in seinem Erinnerungsbuch, ›doch das machte es so wundervoll, wenn er einen Raum voller Leute betrat – oder vielmehr zu der Gesellschaft einiger ausgewählter Freunde stieß. Sein Verlangen nach Kameradschaft und Gemeinschaft war so groß, daß es, wenn er eine Versammlung betrat, manchmal schien, als hätte eine Bombe eingeschlagen.‹ Reichel verließ die lärmenden Feste der Villa Seurat stets fluchtartig.
Künstler fühlen sich meistens nicht durch Wesensverwandtschaft verbunden, sondern durch das, was ihre Individualität übersteigt; etwas in ihnen zielt aus dem Einzeldasein auf ein gemeinsames hin. Dieses verbindende Allgemeine spricht aus einem Brief, den Miller an Reichel schrieb: ›Die Schöpfung ist reines Verlangen. Man besitzt nichts. Man schafft. Man verwirft. Es ist eine Sache, die man mit sich selbst und Gott abmacht.‹
»Ich ändere mich nicht«, sagt Reichel zu mir. Das Wort ›Arbeiten‹ lehnt er für seine Malweise ab; ein Wort von ihm lautet: ›Ich glaube nicht, daß die Nachtigall nach ihrem Singen sagte: Ich habe gearbeitet. Auch meine kleinen Aquarelle sind keine Arbeiten; sie sind eher Lieder, Gebete, kleine Farbmelodien, die vielen Leuten Freude gemacht haben, nicht mehr und nicht weniger.‹
In sich versponnen, allem Kunstbetrieb abhold, wirkt Reichel wie eine Landmarke aus einer ruhigeren, besinnlicheren Zeit. Er selbst hat Zeit. Er wandelt seinen inneren Besitz in immer neuen malerischen Meditationen ab. Sein Werk ist bescheiden, aber es hat dennoch einen eigenen Wert, weil es von einem ›Genie des Herzens‹ getragen wird. ¶


Hans Reichel: Im Kraftfeld von Bauhaus und École de Paris.
Ausstellung im Museum im Kulturspeicher, Würzburg;
noch bis 3. Juli 2005.

www.kulturspeicher.de