Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Berlin
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Wie Lebenswege zu Leidenswegen wurden

Klaus Gasseleder erzählt von Schicksalen jüdischer Bürger und von der Zerstörung eines unterfränkischen Dorfes

Die Begegnung erfolgte am letzten Tag einer Wanderung: Das Rhöndorf Steinach mit den Spuren einstiger Zerstörung und den Hinweisen auf einstige jüdische Bürger erregte Gasseleders Aufmerksamkeit. Zusätzlich motiviert zur Spurensuche wurde er auch durch das Buch »Die Ausgewanderten« von W. G. Sebald. Daraufhin forschte er in Archiven, las Chroniken, erschloß sich die Erinnerung von Mitgliedern der jüdischen Familie Frank und griff auf weitere Berichte von Zeitzeugen zurück.
Nach den Jahren des Reifenlassens legt er nun seinen dokumentarischen Roman vor, in dem er tief schürft, wenn er Erinnerung sprechen läßt. Erinnerung, die nach alter jüdischer Weisheit »Keim der Erlösung« ist.

Heile Welt mit Moritatensang
Vor dem späteren Schrecken besonders ergreifend: Die Schilderung der Kindheit von Thea Frank im dörflichen Leben von einst. Ins Gedächtnis gerufen wird vor allem das Leben der Juden in dem katholischen Dorf Steinach um 1900, aufgezeigt, wie Juden und Christen sich und ihre religiösen Feste und Bräuche gegenseitig respektierten. Wie die jüdischen Familien in ihrer Tradition lebten, den Sabbat begingen, ihre Feste, so zum Beispiel das Purimfest, feierten, an dem die Kinder sich maskierten und mit Süßigkeiten beschenkt wurden. Wie Thea die aus Bad Kissingen kommenden Kurchaisen bestaunte, mit den anderen Dorfkindern in der Saale badete oder einfach in einer Wiese lag und Märchen las. Und einmal bei einem Familienausflug in die Kurstadt sogar den Fürsten Bismarck gesehen hat.
Nicht ganz so rosig die Erinnerung an Alex Bein, in Israel als Aleksander Bayn ein bekannter Historiker, der sich zeitlebens als »fränkischen Dorfjuden« bezeichnete. Er berichtet vom Unterricht seines Vaters, des Lehrers der jüdischen Dorfschule, der zugleich als Kantor der dörflichen Synagoge amtierte, als solcher seine Stimme im »schönen unterfränkischen Kantorengesang« erschallen ließ. Den kleinen Alex beeindruckten am meisten die Wasserräder, Blasebälge und die Technik des Sägewerks. Auch stark in seiner Erinnerung der Zirkus, der in dem Ort gastierte, mit Tanzbär, Stemmern und Seiltänzern. Scheu empfand er stets vor dem großen Kruzifix. Und einmal kam ein Moritatensänger, der zur Drehleier von »Untaten der Juden« sang. Da sei ihm ein »Schauer über den Rücken« gelaufen, besonders, als die anderen Buben ihn anschauten.

Gutbürgerlich und »grunddeutsch«
Lazarus Frank, erfolgreicher Pferdehändler mit Geschäftsbeziehungen bis nach Norddeutschland, zieht 1905 mit seiner siebenköpfigen Familie nach Bad Kissingen. Bezogen wird eine neuerworbene Villa. Ebenso wie auf eine gute Schulbildung für seine Kinder, die auch am kurstädtischen Kulturleben teilnehmen dürfen, achtet er sehr auf Sparsamkeit. Er knausert mit dem Brennholz, der Garten darf nur mit Wasser aus dem »Brünnle« gegossen werden, die Kinder müssen im Haus mithelfen, sogar am Bahnhof Hausgäste werben, denn er vermietet auch Zimmer. Einer der Gäste kommt aus dem fernen Perm in Sibirien. Besonders streng werden die Töchter erzogen. So erlebt Thea ihren ersten Rosenmontagsball »als Sodom und Gomorrha«. Doch gegen den Willen ihres Vaters und den Rat des Rabbiners, wird sie, einige Jahre älter geworden, ihren Fritz heiraten.
Als der Erste Weltkrieg beginnt, herrscht auch unter den jüdischen Bürgern Kissingens Hochstimmung, pflegen doch die meisten eine »grunddeutsche, nationale« Gesinnung. Stolz blickt die Familie Frank auf ihren Julius, der als Leutnant, ausgezeichnet mit dem EK II, im Heimaturlaub vom Vater angehalten wird, stets seine Uniform zu tragen. Thea und ihre Schwestern leisten nun anstrengenden Pflegedienst an Verwundeten, mit denen die Kurhotels jetzt gefüllt sind.

Die Gemeinheit der Heimat
Mit großem Faktenreichtum und einer Fülle von Details werden auch die Jahre nach dem Weltkrieg erzählt, als die Lebenswege der jüdischen Menschen zu Leidenswegen wurden. Zunehmend beginnt die schäbige Propaganda der Nazis zu wirken, und die Menschen bekommen »andere, eiserne Gesichter«. Aufgezeigt die Gemeinheit der Heimat, Verrat, Lokalhistorie, exemplarisch für die Schrecklichkeit des Nazismus, der nun in Deutschland tobt.
Nach der Machtergreifung kommen die ersten »lagerfähigen« Juden nach Dachau. Neben Beleidigungen und körperlichen Übergriffen sind immer neue Schikanen zu erdulden. Juden dürfen kein Telefon mehr besitzen, keine Busse mehr benutzen, die Kuranlagen nicht mehr betreten, müssen Postverzögerungen hinnehmen, ihre Führerscheine werden eingezogen. Enteignungen, »Arisierungen«, erfolgen. »Judensteuer« und »Reichsfluchtsteuer« werden erhoben.
Apathie und Angst greifen um sich. Erstmals fühlt Lazarus Frank sich nun als Jude, redet zum Erstaunen seines Sohnes plötzlich wie ein Orthodoxer von »Prüfung für das auserwählte Volk«, weigert sich mit auszuwandern, weil er weiterhin hofft.

Der Weg in die Vernichtung
Wer bleibt, wird drangsaliert, wer geht, diffamiert. So werden denen, die die Stadt verlassen, in der Presse hämische Kommentare hinterhergeworfen.
Erschütternd das Abschiedsgedicht von Klara Goldstein, vor ihrer Flucht, nachdem ihr Mann Selbstmord verübte. Ihre Freundin Clara, Lazarus’ Frau, hält es in Händen. Bald sitzt sie, Verehrerin der deutschen Klassiker, im abgedunkelten Zimmer und lauscht und fragt: »Warum singen die Vögel so leise?« Nicht mehr lange, und sie wird krank und begeht auch Selbstmord.
Dann kommt der Tag, an dem Judentransporte abgehen nach Würzburg. Ungeheuer bürokratisch werden sie in die Wege geleitet. Die »Evakuierung« wird mitgeteilt, darauf muß der Besitz abgegeben, Stromrechnungen usw. bezahlt werden. Ein Würzburger Parteigenosse bittet die »Obrigkeit«, ihm den Rucksack eines Juden zu überlassen. Der Transport geht weiter. Die Spuren der Deportierten verlieren sich in den Vernichtungslagern in der Nähe von Lublin.
Lazarus Frank ist über 65 und gehört zu der Gruppe, die in ein jüdisches »Alters- und Pflegeheim« nach Würzburg eingewiesen wird. »Kissingen ist judenfrei« jubelt die »Saale-Zeitung« gleich darauf. Bald werden diese Alten gezwungen, einen »Heimeinkaufvertrag« abzuschließen für einen »Lebensabend« im Ghetto von Theresienstadt. Mit Peitschen getrieben kommen sie dort an. An den Strapazen kommt Lazarus um.

Menschenverachtung bis zum Untergang
Der dritte Teil des Buches ist dem Kampf um Steinach gewidmet. Der Erzähler schöpft hier im Wesentlichen aus Berichten des Pfarrers, des Lehrers und des Oberförsters, um die Dramatik des absurden Geschehens bei der Verteidigung des Dorfes durch fanatisierte SS-Verbände, versprengte Wehrmachtseinheiten sowie dem Volkssturm zu schildern. Der Menschenverachtung der Nazis fallen nun, Anfang April 1945, noch eine große Anzahl von Menschen zum Opfer; der Ort wird dabei weitgehend zerstört.
Mit erweiterter Perspektive von besonderem Informationsgehalt das »Nachzutragende« am Ende des Bandes.

Schmerz der Erinnerung
Klaus Gasseleder, durch seine bisherigen Publikationen als ernstzunehmender Schriftsteller ausgewiesen, der in seinem Schreiben nicht nur Franken gerne quert und umkreist, hat mit »Zwei Gesichter« ein Buch des Erinnerns und des Gedenkens geschrieben, aus dem echte Betroffenheit spricht. Haben ihm doch manchmal – er läßt immer wieder am Entstehungsprozeß teilhaben – beim Studium der Polizeiberichte und der Gestapoakten »die Augen getränt« und »sich der Magen umgedreht«. Ein Roman, der Sprache und Greueltaten, die Infamie der Unmenschen dokumentiert, aber es nicht dabei belässt. Das Buch ist komponiert aus Faktizität und dem hohen Ton einer Poetik der Erinnerung im Stil W. G. Sebalds, an dem er sich zweifellos ausgerichtet hat. So ruft er die Opfer bei ihrem Namen zurück, stellt sie konkret vor Augen und prägt sie ins Gedächtnis des Lesers. Beeindruckend ebenfalls die poetischen Porträts von Orten und Landschaften in einer Stimmung von Melancholie gepaart mit Wehmut. Wenn die ehedem heftig gehegte Hoffnung auf Besserung der Welt durch Literatur doch noch ihre Bedeutung hat, dann durch solch ein Buch. Es verdient Beachtung.

Emil Mündlein


Klaus Gasseleder: Zwei Gesichter. Aus der Chronik einer jüdischen Familie, eines fränkischen Dorfes und eines Weltbades in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vetter Verlag, Geldersheim 2005, 194 S., € 16.
Der Autor liest am Freitag, 3. Juni 2005, 20 Uhr, im Wortraum in Winterhausen aus dem Buch.