Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und Berlin
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Fotos: Weissbach

»Kabale und Liebe«-Inszenierung in der Würzburger Werkstattbühne

Trefflich unzeitgemäß,
nicht unbedingt daneben

Ob die Werkstattbühne Schillers Jugendwerk »Kabale und Liebe« in Szene gesetzt hätte, wenn der Dichter nicht am 9. Mai allein – obwohl er doch im letzten Lebensabschnitt, wie das Klischee behauptet, alles mit Goethe gemeinsam machte – zu sterben hat, wenn auch vor 200 Jahren, sei dahingestellt. Denn selbst für halbwegs deutliche Bezüge zur aktuellen Wirklichkeit braucht es schon eine Brechstange.
Das Standesdenken, die im 18. Jahrhundert vor allem im deutschen Raum erstarrte Standesgesellschaft, hat sich mittlerweile historisch erledigt – na, gut: Bayern! Also: weitestgehend. Und der Schiller’sche Aufschrei gegen Tyrannenwillkür, Ausbeutung, Unterdrückung, gesellschaftliche Vorurteile, wiewohl einst mutig, obgleich auch in diesem kühnsten Stück der Sturm und Drang-Periode der Fürst selbst nicht angegriffen wird, sondern seine Statthalter, Agenten und Ratgeber die Bösewichte sind, der Schiller’sche Aufschrei belustigt heute eher, als daß er zum ernsthaften Nachdenken anstachelt. Die Mächtigen und Reichen sind schlecht und schrecken vor nichts zurück, ihre Macht und ihren Reichtum zu erhalten und zu mehren. Das wußten wir schon (und bekommen es derzeit vom SPD-Denker Müntefering – völlig überraschend – in Erinnerung gerufen), nur hilft dieses Wissen uns wenig. Gesellschaftliche Mißstände lassen sich nun mal nicht damit beseitigen, daß die Bösen angehalten werden, doch bitteschön weniger böse zu sein.
Unser System, also das, was – beschönigend gesagt – auch für die kleinen und großen Intrigen, an denen wir mehr oder minder alle als Täter und Opfer beteiligt sind, verantwortlich gemacht werden könnte, wäre auch nicht mit der Liquidation einiger auffälliger Übeltäter zu verändern. Neuerdings wird es gerne als eine riesige Maschine beschrieben, die alles frißt und aus allem Gewinn schöpft. Von vollen Auftragsbüchern profitieren die Aktionäre, von Entlassungen wegen Auftragsmangels profitieren nicht minder die Aktionäre; Chemieunternehmen verschmutzen die Umwelt und verkaufen gleichzeitig die Technologien, um die Verschmutzung wieder zu beseitigen; die Bedrohung durch Terroristen ist ein gefundenes Fressen für Sicherheitsfirmen usw.
Wie die Logik dieses Systems vernünftig gestört werden könnte, das scheint im Moment niemand zu wissen. Und ganz gewiß hilft das Strickmuster des 1783 in Oggersheim und Bauerbach bei Meiningen geschriebenen und 1784 in Mannheim mit großem Erfolg uraufgeführten Stückes nicht weiter.
Freilich kann man unterstellen, daß die Werkstattbühne mit der Inszenierung des bürgerlichen Trauerspiels nicht die Welt zu verändern glaubt. Nur, was will es dann? Unterhaltung? Mal wieder in Klassik gemacht? Und was soll die verschämt-drastische Modernisierung? Ferdinand dosiert sein Gift aus einem Plastiktütchen, bedroht seine Liebste mit einer Sechsschußpistole, Hofmarschall von Kalb kokst, Luise klimpert englische Folkmusik, die Schergen des Präsidenten kommen daher wie die Killer aus amerikanischen Thrillern, und der Haussekretär Wurm trägt vermutlich einfach einen Anzug aus irgendeiner Schulz’schen Kafka-Produktion auf.
Lady Milford – in früheren Produktionen des Hauses wäre sie mit erregendem Nichts, statt zweier schwarzer Zensurbalken, unter ihrem Gazekleidchen aufgetreten, weil man das Schiller’sche Gespür für Bühneneffekte weitergedacht hätte – hat dem Aktualisierungsbemühen allerdings Tribut zu zollen.
Die vermutlich schwierigste Rolle des aufgefrischten Stückes bleibt eben deshalb eher in der Mitte des Schwarz-Weiß-Schemas – sie ist nicht verführerisch genug, nicht betrunken genug, nicht moralisch genug und nicht ich-süchtig genug.
Apropos Schwarz-Weiß: Die Figuren leben auf einem Schachbrett, in einem Spiel, das im Patt endet. Als Gedankenspiel im strengen Sinne kann man die Inszenierung in der Tat durchgehen lassen. Wenn man so will, sogar ein Gedankenspiel mit Fantasy-Qualitäten, in dem es beiläufig um Macht und ihre Auswirkung auf das private Glück geht, im Ernst aber um ein Wunschbild von Liebe. Die große, reine Liebe bis in den Tod entpuppt sich als einem repressiven System verdankt, das noch keine Zwischentöne kennt, sondern deutlich trennt zwischen Gut und Böse, unschuldig und verdorben, korrupt und naiv.
Es scheint am ehesten diese keineswegs zu verklärende, mitunter gar gefährliche (um nicht das abgegriffene Modewort »faschistoid« zu bemühen) Sehnsucht nach klaren Verhältnissen zu sein, die das Trauerspiel heute bedient, und – weil nicht stimmig von Hermann Drexler modernisiert (Regisseur Michael Thalheimer hatte 2002 am Thalia-Theater in Hamburg das Stück dagegen gänzlich im Mafia-Milieu angesiedelt) – zumindest in die Nähe von trendigen Fantasy-Produkten rückt. Dies vor allem, wenn die Verlierer des Stücks nicht erkannt oder wenigstens erspürt werden.
Und das sind nicht Luise und Ferdinand, die kriegen sich ja am Ende (im Himmel) und gegen den Willen ihrer Väter. Auch nicht Präsident von Walter und sein schriller Hofmarschall von Kalb: Die sind so zeitlos, daß sie gar nicht recht existieren. Auch Luisens längst ausgestorbene Eltern können schwerlich als die eigentlichen Verlierer gelten, obwohl sie durchaus etwas Mitleid ver.dienen.
Die eigentlichen Verlierer sind die einzigen, bereits von Schiller als moderne Menschen, als Mitglieder der sich abzeichnenden bürgerlichen Gesellschaft angelegten Lady Milford und Haussekretär Wurm, die Angestellten, die Emanzen, bisweilen die Geschäftsführer und die Premiumfrauen, wie sie im Publikum sitzen könnten. Wenn auch mit graduellen Unterschieden, die nur die Spannbreite der Phänotypen des Bürgers verdeutlichen – abgestiegen oder aufgestiegen –, haben Lady Milford und Sekretär Wurm die Logik des Systems so verinnerlicht, daß sie sogar, jeder für sich, gnadenlos gegen sich selbst intrigieren. Sie allein sind Trauerspiel genug, insofern sie das, wonach sie sich sehnen, im selben Atemzug mit aller Macht zerstören: Liebe. Lady Milford zu Ferdinand; Sekretär Wurm zu Luise. Das rechtfertigt hinlänglich, »Kabale und Liebe« wieder einmal auf die Bühne zu bringen, dann reicht’s aber auch mit Schiller.

Wolf-Dietrich Weissbach