Nummer – Zeitschrift für Kultur in Herbipoli et Armoricae
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Peter Bieri in der Buchhandlung Neuer Weg – er weiß noch nicht, ob er am nächsten Tag zur »Residenzvorlesung« mit Krawatte antreten soll oder gar muß.
(Foto: Wolf-Dietrich Weissbach)

Philosophie unter Krawattenzwang

Peter Bieri macht es seinen Lesern leicht und schwer. Er schreibt über komplizierte Themen mit bewunderns-werter Klarheit, aber er verwirrt mit einer Doppelexistenz, die bereits kuriose Züge annimmt. Davon zeugt sein neuer Roman Nachtzug nach Lissabon, den er unter dem Pseudonym Pascal Mercier erscheinen ließ und in dem vermerkt ist, daß der Autor – also Mercier – 2001 unter dem Namen Peter Bieri ein Buch mit dem Titel Das Handwerk der Freiheit herausbrachte.

Diese Verflüchtigung zur Autorenrolle hatte der leibhaftige Bieri – 1944 geboren in Bern – wohl nicht gewollt. Sein Pseudonym sollte zunächst nur die unvoreingenommene Aufnahme seines ersten Romans Perlmanns Schweigen gewährleisten. Bieri fürchtete damals – 1995 – Rückschlüsse auf seinen Beruf als Philosophieprofessor – er lehrt noch heute in Berlin – und auch ein bißchen um seinen Ruf.
Nachdem der Roman vor der Kritik bestanden hatte, gab er sich 1998 bei der Veröffentlichung seines zweiten Romans Der Klavierstimmer zu erkennen. Sein Pseudonym behielt er aber bis heute bei.

In seinem neuen Roman hat Bieri die Idee, ein anderer zu sein, sogar zum Thema gemacht und bei einer Lesung in der Buchhandlung Neuer Weg in Würzburg erfahren, daß sie abrupte Rollenwechsel abverlangt. Dort ließ er vor rund 100 Freunden der Literatur eben noch die Phantasie zur nahen Festung schweifen, die ihn an Kafkas Schloß erinnert hatte; und dann beschäftigte ihn schon der Gedanke, am nächsten Tag wohl mit Krawatte zur »Residenzvorlesung« im Sitz der ehemaligen Fürstbischöfe antreten zu müssen. »Das scheint ja etwas ganz Vornehmes zu sein«, unkte Bieri und kündigte an, in dem Vortrag zu erklären, warum die Hirnforschung die Freiheit des Willens nicht untergrabe, also kein neues Menschenbild erfordere.

Als Bieri tags darauf – mit Krawatte – den mit rund 300 Zuhörern überfüllten Saal betrat, gab es keine Zweifel über sein Rollenprofil mehr. Karl-Heinz Lembeck, der Gastgeber von der Würzburger Universität, führte das Interesse an dem Philosophen vor allem auf den Erfolg des Buches über die Freiheit zurück. Es ist mehr als 40 000 Mal verkauft und von Studenten angeblich sogar freiwillig gelesen worden – beides gilt als Sensation. Mit diesem Buch im Rücken versuchte Bieri nachzuweisen, daß der Konflikt zwischen Willensfreiheit und neuronalem Determinismus nur durch den Irrglauben zustande gekommen sei, die Hirnforschung beschreibe eine echtere Wirklichkeit als die Begriffe, mit denen sich Menschen über ihre Handlungsmotive verständigen. Das Gehirn denke aber nicht, sagt Bieri. Neuronale Muster seien keine Gedanken. Beiden Beschreibungen komme deshalb ein je eigenes Recht zu.

Damit war das Terrain behauptet, auf dem er am Tag zuvor »in die Tiefe« der Romancharaktere blicken ließ. Da kam es Bieri darauf an zu zeigen, was genau den Lehrer Raimund Gregorius bewogen hatte, sich für ein neues Leben zu entscheiden und sich dabei in ein Buch des portugiesischen Adeligen Amadeu de Prado hineinziehen zu lassen. Solche Wendepunkte hatte Bieri auch in seinem Buch über die Freiheit analysiert und daraus geschlossen, daß man zum »Autor des Willens« werden müsse; der innere Prozess der Willensbildung war aber unklar geblieben. Bieri hatte als Philosoph »noch keine gute Antwort« und übergab gewissermaßen an den Romanautor, der es besser machen sollte.

Im Nachtzug nach Lissabon setzt dieses Problem nun eine lange Reise fort. Es war von der Philosophie in die Psychologie gewandert, aber nie ist wirklich geklärt worden, wie man von der Innenwelt des Menschen überhaupt wissen konnte. Homer kannte sie noch nicht. Die Philosophen haben dem Menschen dann eine Seele eingepflanzt, die über den inneren Sinn – ihr einziges Organ – ihre Regungen angeblich zur Kenntnis nahm. So dachte man noch im 19. Jahrhundert, bis sich Franz Brentanos Auffassung durchsetzte, daß jeder psychische Akt per innerer Wahrnehmung mit untrüglicher Sicherheit sich selbst gewahr werde – wer denkt, weiß auch, daß er denkt.

Die Psychologen der Würzburger Schule beobachteten um 1900 – nach Brentanos Lehre – systematisch Denkprozesse, aber ihre Ergebnisse waren umstritten. Die innere Wahrnehmung, hieß es, sei nur eine vage Analogie zur optischen Wahrnehmung und die gesamte Innenwelt bloß eine räumliche Metapher, um Immaterielles – Geistiges – verorten zu können. Damit kam nach der Seele und dem inneren Sinn nun auch die innere Wahrnehmung – auch Introspektion genannt – in Mißkredit; und bald sind geistige Vorgänge sogar gänzlich neu lokalisiert worden. Gottlob Frege zufolge gehörte das Denken weder der Innen- noch der Außenwelt an. »Ein drittes Reich muß anerkannt werden«, meinte er, in dem man Gedanken faßte; und Edmund Husserl war ebenfalls überzeugt von einem »eigenen Reich«, in dem das Denken sich selbst gegenwärtig, bewußt sei. Dabei schwebte es – so Husserl – »sozusagen in der Luft«.

Plausibler wurde diese waghalsige Idee durch die Erkenntnis, daß sich die geistige Welt doch irgendwie in Wörtern wie »Denken«, »Meinen«, »Wollen« materialisiert. Auch sie bezeichnen meist keine inneren Vorgänge, sondern regulieren oft nur alltägliches Handeln. Ein Satz wie »Ich denke daran« bedeutet, eine Verpflichtung einzugehen, nicht aber zu denken. Mit solchen Analysen hat Bieri seine philosophischen Lehrjahre verbracht und in den 80er Jahren Texte herausgegeben, in denen die Begriffe für das Mentale akribisch untersucht wurden. Einer der Autoren bahnte mit der verblüffenden Frage »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« allerdings die Einsicht an, daß die geistige Welt nicht ganz in Sprache aufgeht und der erlebnisgetönte Hintergrund des Bewußtseins tendenziell fremd bleibt – undurchsichtig.

In dieser Version hat Bieri die alte Frage nach den inneren Vorgängen im Nachtzug nach Lissabon platziert. Dort bemerkt der Lehrer Gregorius, daß es ihm kaum schwerer fällt zu erfahren, wie es ist, ein anderer – de Prado – zu sein, als sich selbst zu erkunden. Als er sich etwa vergewissern will, wann die Entscheidung gefallen war, ein neues Leben anzufangen, stößt er auf keinen inneren Ruck; seine »Archäologie der Seele« bringt nur Äußerlichkeiten zutage wie etwa den fremden Klang des Wortes »Portugues«, der ihn zum Komplizen einer anderen Welt machte.

Bereits in dieser Anfangsszene ist sein Inneres offen zur Außenwelt, in der schon eine kleine Irritation den Lebensstrom in eine andere Form umlenken kann. Als solche erweist sich vor allem de Prados Buch, in das sich Gregorius hineinliest. Er sitzt damit bereits im Zug und könnte noch aussteigen, aber dann wechselt er sogar in die 1. Klasse über. In Lissabon taucht er schließlich immer tiefer in die Biografie de Prados und in die portugiesische Sprache ein und entfernt sich von seinem bisherigen Leben zusehends. Innerlich und äußerlich hat er eine große Strecke zurückgelegt.

Zuletzt schläft Gregorius im Kinderbett – ein überdeutliches Wiedergeburtsmotiv, das die märchenhaften Züge des Romans unterstreicht. Die Innenwelt wird von Bieri in eingestreuten Passagen aus de Prados Buch nach dem neuesten Stand abgehandelt. Dabei führt er die innere Wahrnehmung an Begriffe wie »Erlebnis« und »Erfahrung« heran, die ohne Phantasie nicht denkbar sind und deshalb nie als unbezweifelbare Tatsachen gelten können. All diese angeblich inneren Vorgänge, Akte, Episoden gehören eben doch einer erschriebenen und immer wieder umgeschriebenen Welt an, in der Begriffe und Modelle – mit der Seele angefangen – erprobt wurden, um Personen von Dingen unterscheiden zu können und sich selbst und andere zu verstehen.

Bieri verteidigt diese schimärische Welt, die – nach Homer – für das menschliche Selbstverständnis nur auf andere Weise wirklich geworden ist, als die materielle, die körperliche, die neuronale Welt; er versucht aber, sie zeitgemäßer auszugestalten. An Peter Handkes vertrackter »Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt« führt er zum Beispiel vor, daß man in solch einem Spiegelsystem nicht entdecken kann, was man wirklich denkt, will oder glaubt, sondern nur eine unauslotbare Fülle von eigenen und fremden Erfahrungen. Sich zu verstehen, bedeutet deshalb stets, einen Teil davon zu mobilisieren und dem Leben damit ein Profil zu geben. Bieri zufolge ist das nur als Erzählung möglich. Sie ist die Form, in der sich das Innere artikuliert und die den Philosophen zur Literatur drängt.

Aus dieser Sicht sind Bieris Romane weit entfernt von Hobbypoesie und auch von einer »Parallelpoesie«, wie sie Niklas Luhmann zur Erklärung seiner Theorie erwogen hatte. Um so merkwürdiger ist es, daß Bieri sein konsequent verzahntes Werk nicht souverän – wie etwa Sartre – aus einer Hand entlassen wollte. Mit dem kunstgewerblichen Titel von de Prados Buch »Ein Goldschmied der Worte« scheint er sogar noch immer warnen zu wollen, als Romanautor nicht zu weit – bis zum Kitsch – zu gehen; obwohl er gerade die literarische Arbeit als intensivste Form des Lebens gepriesen hat – »die gegenwärtigste Gegenwart, die ich kenne« – und sie zum Modell für die Willensbildung machte. Dabei ist nach Bieri jeder Mensch ein Autor.

Gerade mit diesem Bogen von der Philosophie über die Literatur zur Lebenspraxis enthüllt sich der ängstliche Poet letztlich aber doch als Denker, der sich etwas traut. Er hatte schon in der Fledermaus-Frage Sartres Hauptmotiv wieder aufkeimen gesehen und fand es »nicht übertrieben, von einer neuen Existenzphilosophie zu sprechen«. Dieses große Projekt führt Bieri ohne große Geste in seinen Romanen fort. Sie erkunden mit selten erreichter Genauigkeit und Klarheit, wie es heute ist, ein Mensch zu sein – die menschliche Existenz; aber sie lassen allenfalls erahnen, wie es dem Autor gelingt, als Peter Bieri und Pascal Mercier – und mit Krawattenzwang – authentisch zu sein.
Sein verschämtes Pseudonym läßt sich jedenfalls nicht mehr aus der Welt schaffen.

Helmut Klemm

Bücher
Peter Bieri hat unter dem Pseudonym Pascal Mercier drei Romane veröffentlicht. Die ersten beiden – »Perlmanns Schweigen« (1995) und »Der Klavierstimmer« (1998) – gibt es bei Bertelsmann noch als Taschenbuch. Sein neuer Roman »Nachtzug nach Lissabon« ist 2004 beim Hanser-Verlag erschienen. Der philosophische Essay »Das Handwerk der Freiheit« (2001) mit Peter Bieri als Autor ist ebenfalls noch als Taschenbuch beim Fischer-Verlag erhältlich.