Im Nachtzug nach Lissabon setzt dieses Problem nun eine lange Reise fort. Es war von der Philosophie in die Psychologie gewandert, aber nie ist wirklich geklärt worden, wie man von der Innenwelt des Menschen überhaupt wissen konnte. Homer kannte sie noch nicht. Die Philosophen haben dem Menschen dann eine Seele eingepflanzt, die über den inneren Sinn ihr einziges Organ ihre Regungen angeblich zur Kenntnis nahm. So dachte man noch im 19. Jahrhundert, bis sich Franz Brentanos Auffassung durchsetzte, daß jeder psychische Akt per innerer Wahrnehmung mit untrüglicher Sicherheit sich selbst gewahr werde wer denkt, weiß auch, daß er denkt.
Die Psychologen der Würzburger Schule beobachteten um 1900 nach Brentanos Lehre systematisch Denkprozesse, aber ihre Ergebnisse waren umstritten. Die innere Wahrnehmung, hieß es, sei nur eine vage Analogie zur optischen Wahrnehmung und die gesamte Innenwelt bloß eine räumliche Metapher, um Immaterielles Geistiges verorten zu können. Damit kam nach der Seele und dem inneren Sinn nun auch die innere Wahrnehmung auch Introspektion genannt in Mißkredit; und bald sind geistige Vorgänge sogar gänzlich neu lokalisiert worden. Gottlob Frege zufolge gehörte das Denken weder der Innen- noch der Außenwelt an. »Ein drittes Reich muß anerkannt werden«, meinte er, in dem man Gedanken faßte; und Edmund Husserl war ebenfalls überzeugt von einem »eigenen Reich«, in dem das Denken sich selbst gegenwärtig, bewußt sei. Dabei schwebte es so Husserl »sozusagen in der Luft«.
Plausibler wurde diese waghalsige Idee durch die Erkenntnis, daß sich die geistige Welt doch irgendwie in Wörtern wie »Denken«, »Meinen«, »Wollen« materialisiert. Auch sie bezeichnen meist keine inneren Vorgänge, sondern regulieren oft nur alltägliches Handeln. Ein Satz wie »Ich denke daran« bedeutet, eine Verpflichtung einzugehen, nicht aber zu denken. Mit solchen Analysen hat Bieri seine philosophischen Lehrjahre verbracht und in den 80er Jahren Texte herausgegeben, in denen die Begriffe für das Mentale akribisch untersucht wurden. Einer der Autoren bahnte mit der verblüffenden Frage »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« allerdings die Einsicht an, daß die geistige Welt nicht ganz in Sprache aufgeht und der erlebnisgetönte Hintergrund des Bewußtseins tendenziell fremd bleibt undurchsichtig.
In dieser Version hat Bieri die alte Frage nach den inneren Vorgängen im Nachtzug nach Lissabon platziert. Dort bemerkt der Lehrer Gregorius, daß es ihm kaum schwerer fällt zu erfahren, wie es ist, ein anderer de Prado zu sein, als sich selbst zu erkunden. Als er sich etwa vergewissern will, wann die Entscheidung gefallen war, ein neues Leben anzufangen, stößt er auf keinen inneren Ruck; seine »Archäologie der Seele« bringt nur Äußerlichkeiten zutage wie etwa den fremden Klang des Wortes »Portugues«, der ihn zum Komplizen einer anderen Welt machte.
Bereits in dieser Anfangsszene ist sein Inneres offen zur Außenwelt, in der schon eine kleine Irritation den Lebensstrom in eine andere Form umlenken kann. Als solche erweist sich vor allem de Prados Buch, in das sich Gregorius hineinliest. Er sitzt damit bereits im Zug und könnte noch aussteigen, aber dann wechselt er sogar in die 1. Klasse über. In Lissabon taucht er schließlich immer tiefer in die Biografie de Prados und in die portugiesische Sprache ein und entfernt sich von seinem bisherigen Leben zusehends. Innerlich und äußerlich hat er eine große Strecke zurückgelegt.
Zuletzt schläft Gregorius im Kinderbett ein überdeutliches Wiedergeburtsmotiv, das die märchenhaften Züge des Romans unterstreicht. Die Innenwelt wird von Bieri in eingestreuten Passagen aus de Prados Buch nach dem neuesten Stand abgehandelt. Dabei führt er die innere Wahrnehmung an Begriffe wie »Erlebnis« und »Erfahrung« heran, die ohne Phantasie nicht denkbar sind und deshalb nie als unbezweifelbare Tatsachen gelten können. All diese angeblich inneren Vorgänge, Akte, Episoden gehören eben doch einer erschriebenen und immer wieder umgeschriebenen Welt an, in der Begriffe und Modelle mit der Seele angefangen erprobt wurden, um Personen von Dingen unterscheiden zu können und sich selbst und andere zu verstehen.
Bieri verteidigt diese schimärische Welt, die nach Homer für das menschliche Selbstverständnis nur auf andere Weise wirklich geworden ist, als die materielle, die körperliche, die neuronale Welt; er versucht aber, sie zeitgemäßer auszugestalten. An Peter Handkes vertrackter »Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt« führt er zum Beispiel vor, daß man in solch einem Spiegelsystem nicht entdecken kann, was man wirklich denkt, will oder glaubt, sondern nur eine unauslotbare Fülle von eigenen und fremden Erfahrungen. Sich zu verstehen, bedeutet deshalb stets, einen Teil davon zu mobilisieren und dem Leben damit ein Profil zu geben. Bieri zufolge ist das nur als Erzählung möglich. Sie ist die Form, in der sich das Innere artikuliert und die den Philosophen zur Literatur drängt.
Aus dieser Sicht sind Bieris Romane weit entfernt von Hobbypoesie und auch von einer »Parallelpoesie«, wie sie Niklas Luhmann zur Erklärung seiner Theorie erwogen hatte. Um so merkwürdiger ist es, daß Bieri sein konsequent verzahntes Werk nicht souverän wie etwa Sartre aus einer Hand entlassen wollte. Mit dem kunstgewerblichen Titel von de Prados Buch »Ein Goldschmied der Worte« scheint er sogar noch immer warnen zu wollen, als Romanautor nicht zu weit bis zum Kitsch zu gehen; obwohl er gerade die literarische Arbeit als intensivste Form des Lebens gepriesen hat »die gegenwärtigste Gegenwart, die ich kenne« und sie zum Modell für die Willensbildung machte. Dabei ist nach Bieri jeder Mensch ein Autor.
Gerade mit diesem Bogen von der Philosophie über die Literatur zur Lebenspraxis enthüllt sich der ängstliche Poet letztlich aber doch als Denker, der sich etwas traut. Er hatte schon in der Fledermaus-Frage Sartres Hauptmotiv wieder aufkeimen gesehen und fand es »nicht übertrieben, von einer neuen Existenzphilosophie zu sprechen«. Dieses große Projekt führt Bieri ohne große Geste in seinen Romanen fort. Sie erkunden mit selten erreichter Genauigkeit und Klarheit, wie es heute ist, ein Mensch zu sein die menschliche Existenz; aber sie lassen allenfalls erahnen, wie es dem Autor gelingt, als Peter Bieri und Pascal Mercier und mit Krawattenzwang authentisch zu sein.
Sein verschämtes Pseudonym läßt sich jedenfalls nicht mehr aus der Welt schaffen.
Bücher
Peter Bieri hat unter dem Pseudonym Pascal Mercier drei Romane veröffentlicht. Die ersten beiden »Perlmanns Schweigen« (1995) und »Der Klavierstimmer« (1998) gibt es bei Bertelsmann noch als Taschenbuch. Sein neuer Roman »Nachtzug nach Lissabon« ist 2004 beim Hanser-Verlag erschienen. Der philosophische Essay »Das Handwerk der Freiheit« (2001) mit Peter Bieri als Autor ist ebenfalls noch als Taschenbuch beim Fischer-Verlag erhältlich.