Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und im Ballsport
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Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Die nachfolgenden Fotografien stammen von der Aufführung der »Weibervolksversammlung« der Werkstattbühne im Efeuhof des Würzburger Rathauses.
Inszenierung: Wolfgang Schulz

Was ist, was darf Kritik?

Zweiter Teil

von Wolf-Dietrich Weissbach

Bestimmt ist es boshaft, überspitzt und bewußt provokant, zu behaupten, daß heute im Kulturleben – ganz ohne sichtbaren politischen Zwang – eine Situation entstanden ist, die grob betrachtet dem zumindest ähnelt, wozu es vor rund 70 Jahren in Deutschland des Verbots durch den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda bedurft hatte: Es gibt inzwischen – von rühmlichen Ausnahmen abgesehen – keine nennenswerte Kunst-, Literatur-, Theater- oder gar Film- und Fernsehkritik, die die Bezeichnung tatsächlich verdiente und vor allem im öffentlichen Bewußtsein eine Rolle spielte. Dies verdankt sich zweifellos zu einem Teil der Pressekonzentration oder, allgemeiner, den Marktbedingungen in der Medienlandschaft. Ganz lapidar: Im erbitterten Kampf um jeden Leser wird man sich hüten, ohne Not auch nur einzelne zu verprellen. Wichtiger: Aus Kostengründen haben die Zeitungen schon lange darauf verzichtet, etwa die Berliner Performance einer Vanessa Beacroft von eigenen Kritikern begutachten zu lassen. Das erledigen die Agenturen, und zwar gerne in der Form eines Features (menschelndes Rührstück), ohne allzu viel Wertung (soll es doch an alle verkaufbar sein), bestenfalls aufgehübscht mit einer Stimme aus dem Volk. Auf diese Weise werden dann gar gesellschaftspolitische Ergüsse der Künstlerin derart, sie habe – weil in Deutschland – darauf geachtet, daß schwarz-, rot- und goldhaarige Frauen zu gleichen Teilen ausgestellt wurden, klaglos hingenommen.

Zugegeben: Ohne Agenturen wäre die Masse an kulturellen Events, an mehr oder minder bedeutsamen Inszenierungen, Ausstellungen, Buchvorstellungen und Filmpremieren nicht zu bewältigen. Vorausgesetzt, dies wäre überhaupt erforderlich, paßte natürlich ein feinsinniger Intellektueller auch ohne überregionale Bedeutung vom Schlage eines Otto Schmitt-Rosenberger (wie ihn sich die Zeitungen sowieso nicht mehr leisten), der all dies noch zu würdigen und zu werten verstände, ohnehin nicht an den Newsdesk. Das Überangebot also wird man den Kulturredaktionen durchaus zugute halten; erinnert sei nur daran, daß es auch einmal eine rege Film- und Fernsehkritik gegeben hat. Siegfried Kracauer in den 1920er/30er Jahren; noch in den 1970er Jahren mühten sich Leute z. B. im Rahmen der Zeitschrift »Filmkritik« um neue Wege. Inzwischen ist vermutlich jedem klar, daß es keinen Sinn ergibt, beliebige TV-Produktionen z. B. auf ihre bestenfalls hanebüchenen Ideologien hin zu untersuchen, wenn am übernächsten Tag keiner mehr weiß, wovon die Rede ist. Die Verantwortlichen – wer immer das ist – scheinen auf die heilende Kraft der Verwirrung zu vertrauen. Überhaupt, wer außer Dürrenmatt (»Achterloo«) behauptet schon (und das ist lange her), daß die durch die elektronischen Medien erzeugte Konfusion etwas Schlechtes sei?

Selbst diese unsystematisch zusammengetragenen, wenigen Aspekte wollen Verständnis dafür erheischen, daß ernsthafte Kritik in Sachen Kultur nicht mehr möglich und nicht mehr nötig ist. Der Kulturredakteur mutiert, wo es überhaupt noch um künstlerische, literarische Leistungen und nicht nur um das Privatleben von Stars und Sternchen geht, vollends zum in gewisser Hinsicht gar gedungenen Lobredner, zum PR-Mann für Filmverleih, Kinos und Verlage – die schalten evt. Anzeigen – und aus ideellen, wenn nicht sozialen Gründen auch für Theater, Museen, Künstler, die, ob Institution oder Einzelpersonen, durch mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit in ihrer Existenz bedroht werden könnten. So ergeht man sich bei Ausstellungsbesprechungen in blumigen Kunstbetrachtungen (es sei denn, es gibt keinen Katalog – dann wird selbst ein vorab schon gewonnen geglaubtes Heimspiel zum Fiasko) und bei Theaterkritiken – wovon weiter unten noch zu reden sein wird – vergibt man insbesondere Sympathiepunkte an die Schauspieler. Immerhin noch mit einem Anflug von Kritik verfällt mancher Schreiber sogar auf die aberwitzige Konstruktion, das Stück oder die Inszenierung krottenschlecht (meist ohne rechte Begründung), die einzelne Schauspieler aber genial zu finden (aber das wäre ein eigenes Thema).

Goebbels’ Folgen

Gleichwohl spielen die Medien bei dem, was man als Verfall der Kritik bezeichnen könnte, allenfalls eine unterstützende Rolle. Kehren wir zum eingangs erwähnten Reichspropagandaminister zurück. Goebbels hatte im Jahr 1937 der ohnehin bereits von ihm dirigierten Presse verboten, weiter Kritik an künstlerischen Leistungen zu üben. Da die Künstler im Dritten Reich in den jeweiligen Reichskammern (für Schrifttum, Musiker usw.) zusammengefaßt waren, und dabei allein schon durch die entsprechenden Aufnahmeverfahren ihre Vortrefflichkeit unter Beweis gestellt hatten, also gewissermaßen den Segen der Nazioberen hatten, konnte der »Journaille« (Goebbels!), den »Meckerern« und »Kritikastern« nicht mehr gestattet werden, an ihnen bzw. ihrer Arbeit herumzumäkeln. Damit waren auch die letzten kleinen politisch-kritischen Bösartigkeiten der vom System nicht ganz überzeugten, aber auch nicht ganz distanzierten Presseleute, die immerhin geeignet sein konnten, den Ruhm eines Arno Breker oder Eberhard Wolfgang Möller wenigstens etwas zu schmälern, unterbunden.

Künstler, Schriftsteller, Denker, Kritiker, die den Nazis vielleicht tatsächlich hätten gefährlich werden können, und denen (seit dem 30. Januar 1933) die Nazis hätten gefährlich werden können – Thomas und Heinrich Mann, Brecht, Musil, Döblin, Jahnn, Seghers, Lasker-Schüler, Sachs, Becher und Kaiser, Adorno, Horkheimer, Benjamin, Bloch, um nur einige zu nennen – waren zum Zeitpunkt des expliziten Kunstkritikverbotes längst im Exil (oder, wie Ricarda Huch und Erich Kästner, in die Innere Emigration gegangen). Einige reagierten auf das Kritikverbot, am interessantesten Ernst Bloch. Unter dem Titel »Deutschfrommes Verbot der Kunstkritik« (Literarische Aufsätze, Frankfurt 1965) schrieb er damals: »Da wird einem erst etwas zwiespältig zumute. Es ist nicht leicht, zu diesem Streich des Nazi sofort Nein zu sagen … Denn wie gemein wurde hier ein halbwegs Richtiges gestohlen und verkehrt.« Über jeden Verdacht erhaben, auch nur irgend eine Entscheidung der Nazigrößen gut zu finden, nutze der Philosoph seine Provokation, um einerseits deutlich zu machen, daß das Kritikverbot kaum wirklich auf die Kunstkritik zielte, sondern schlicht den letzten Rest von Opposition zu unterbinden beabsichtigte, zum anderen aber auch, um der Kunstkritik in der Weimarer Ära die Leviten zu lesen. »Hier ist Korruption sprichwörtlich. Leere Sprüche, unsicheres Urteil, tolle Expertise; gegen den Markt ist noch keiner dieser Schwätzer geschwommen.« Besonders haben es Bloch die Musikkritiker angetan, die sich an Mahler, Schönberg, Berg oder der Arbeit von Otto Klemperer versündigten, und die »ausgeprägte Klatschkategorie der Theaterkritik«. Ernst Bloch griff damit besonders den Kritiker Alfred Kerr an, der – ein Bewunderer Gerhart Hauptmanns – an der Dramatik von Bertolt Brecht versagte. Alfred Kerr, damals geradezu der Prototyp des Kritikers und eine Art Lieblingsfeind von Karl Kraus (der seinerseits mit Walter Benjamin nichts anzufangen wußte), hatte Kritik als eigenen poetischen Bereich verstanden wissen wollen, wobei es auf das Objekt der Kritik gar nicht besonders ankommen sollte. Kerr geht es nie um rational nachprüfbare Analyse, sondern um Kritik als »poetische Kreation aus Anlaß von poetischen Kreationen«. Kerr: »Der wahre Kritiker bleibt für mich ein Dichter: ein Gestalter. Der Dichter ist ein Konstruktor [Kerr hatte sich in seiner Jugend selbst mit unsäglichen Gedichten hervorgetan. Anm. d. Verf.]. Der Kritiker ist ein Konstruktor von Konstruktoren.«

Demgegenüber formuliert Ernst Bloch 1937 unter ausdrücklicher Berufung auf Georg Lukács wie bzw. was Kritik zu sein habe, nämlich »lebendige Auseinandersetzung in Gruppen für und wider, … kein musisches Geschwätz, überhaupt keine Kontemplation«. Bloch lehnt jede Kritik ab, die Stimmungen und Geschmacksurteile artikuliert. Es hat vor allem um die Inhalte der künstlerischen Werke zu gehen. Darin zumindest waren sich bei aller Verschiedenheit ihrer Positionen Lukács, Kraus, Benjamin, Adorno, Bloch und selbst noch ein Herbert Jhering einig – und genau besehen wurden sie als Personen und in ihren Urteilen von den Zeitläuften bestätigt.

Aufgeführt wurde dies vor allem, um deutlich zu machen, daß auch vor 1933 keineswegs eine goldene Zeit der Kritik geherrscht hatte, die gerade Hervorgehobenen etwa allein tonangebend gewesen wären – auch wenn man heute andere gar nicht mehr kennt. Wirkungsmächtiger waren sicher Alfred Kerr und seine Nachahmer. Immerhin wurden auch kritische Stimmen publiziert – Walter Benjamin beispielsweise häufig in der Frankfurter Zeitung –, es gab sie sogar in der Provinz. Überhaupt spielte Berlin (zwischen 1871 und 1933) nie so gekonnt die Rolle eines kulturellen Zentrums wie etwa London oder Paris. Es gab z. B. in Breslau einen Paul Rilla – geachtet und beachtet, wie Hans Mayer (Ffm. 1978) betont –, der allerdings erst viel später überregional zur Kenntnis genommen wurde.

Es gab sogar in Würzburg mit dem heute weitgehend vergessenen Ludwig Friedrich Barthel (1898–1962) einen zumindest vor 1933 kritischen Journalisten und Schriftsteller. Er veröffentlichte in den späten 1920er Jahren kritische Artikel zum Theatergeschehen in Würzburg in der Nürnberger Zeitung (!). Fast schon beklemmend ist, daß 1929 in Würzburg wie heute über die Finanznot des Stadttheaters, über die mögliche Schließung usw. gestritten wurde.

Wie auch immer: Derartiges verschwand 1937 von der Bildfläche. Woran hätte man nach dem 2. Weltkrieg anknüpfen können? Sei es, weil einige der hervorragenden Köpfe tot waren – Karl Kraus starb 1936, Walter Benjamin nahm sich 1940 das Leben aus Angst davor, von spanischen Grenzpolizisten den Nazis ausgeliefert zu werden; sei es, weil die Emigranten unerwünscht waren und erst langsam, und dann in zwei deutsche Staaten, die sich gegeneinander abschotteten, zurückkehrten; sei es, weil Kritik, wiewohl von den Alliierten erwünscht (die Besatzungsmächte hatten sich darauf geeinigt, kritisches Verhalten mit demokratischem gleichzusetzen), erst wieder erlernt werden mußte. Vor allem gebricht es verläßlicher Maßstäbe. Das Geschichtsdenken bedurfte einer Neuorientierung. Hölderlin und Schiller – um nur die besonders Mißbrauchten zu nennen – mußten von ihrer ideologischen Vereinnahmung gereinigt werden.

Wie angedeutet, waren die heimgekehrten Emigranten aus unterschiedlichsten Gründen für die Entwicklung einer neuen Kultur der Kritik keine große Hilfe. Die Gruppe 47 um Hans Werner Richter scheiterte nach den vielversprechenden Anfängen eines Pluralismus der Kritiker schließlich daran, daß man sich vom Markt vereinnahmen ließ – Kritik geriet in die Gefahr, Marktexpertise zu werden. In der Literatur (Handke!) gab es das souveräne Subjekt der Kritik immer weniger.

Verlust des Subjekts?

Was in Teil 1 dieses Artikels (nummer 7) als der Verlust des Subjektes der Kritik bezeichnet wurde, findet hier in der Literatur seine Entsprechung wie auch in dem, was Dieter Wellershoff 1976 unter der Überschrift »Die Auflösung des Kunstbegriffes« konstatiert: »Es gibt keine normative Ästhetik, keinen Widerstand also für Gegnerschaften und Revolten, nur einen inhaltslosen Begriff des Neuen, mit dem Kunst- und Literaturkritik den nach allen Seiten expandierenden Prozeß des Machens begleiten, ohne sicher sagen zu können, was eine notwendige und wesentliche und was eine beliebige Innovation ist.«

An die Stelle einer Avantgarde tritt nach Wellershoff das Neben- und Durcheinander der vielen Konzepte, Macharten, Stile, die gleichzeitig um Aufmerksamkeit und Aktualität und damit eine Marktnotierung konkurrieren. Der Entgrenzung der Kunst, letzten Endes der Entästhetisierung der Kunst, was bedeute, daß Kunstwerke kein höheres Maß an überblickbarer Ordnung enthalten als außer-ästhetische Wirklichkeit, entspreche schließlich die Konsumhaltung des Publikums. »All is pretty« hatte Andy Warhol gesagt, und damit die Abdankungsformel des kritischen Subjektes geprägt. Oder vielleicht doch nicht? Es läßt sich die Auflösung des Kunstbegriffes, das Neben- und Durcheinander vieler Macharten und Stile – zumindest formal – auch als demokratische Diversifikation des Kunstbegriffes verstehen. Es gibt nicht mehr die eine Kunst einer Elite, die für die Masse zumeist nicht einmal verständlich ist, sondern, wie Walter Benjamin es bezeichnete, eine »nachauratische Kunst«, eine Massenkunst, die den Kunstwerken ihre elitäre, kostbare Einmaligkeit nimmt und sie zu Gebrauchsgegenständen (technische Reproduzierbarkeit) macht.

Man könnte auch unter Berufung auf Christian Enzenbergers politische Ästhetik (»Literatur und Interesse«, Ffm. 1981) davon ausgehen, daß sich an der grundsätzlichen Funktion von Kunst, nämlich Sinnlösungen für existentielle Probleme zu bieten, eigentlich nichts geändert hat, nur daß die verschiedenen gesellschaftlichen Stellungen ihren Anspruch auf ihre je eigenen Sinnlösungen auf dem Kunstmarkt behaupten, und nicht mehr nur eine gesellschaftliche Elite ihre Probleme (die künstlerisch bearbeitet sein wollen) zu allgemein menschlichen erklären kann. Daß jeder gesellschaftliche Ort spezifische Sinnprobleme gebiert und nach eigenen Sinnlösungen verlangt, war schon lange klar (auch diesbezüglich hat Walter Benjamin Pionierarbeit geleistet, z. B. mit seinem Hörstück »Was die Deutschen lasen, als ihre Klassiker schrieben«), konnte sich aber wohl erst in einer wenigstens formal demokratisch durchgängigen und hinlänglich wohlhabenden Gesellschaft Gehör verschaffen. Dergestalt beanspruchte Gleichrangigkeit verschiedenster Konzepte von Kunst macht aber auch klar, daß jede Kunst sich gewissermaßen einem globalen Wettbewerb zu stellen hat; mit anderen Worten: es gibt keinen Provinzbonus. Was im Kulturspeicher auftritt, sollte (müsste) auch in der Tate-Gallery bestehen können, andernfalls fiele es unnachsichtiger Kritik anheim.

Macht aber auch nichts! Auf der Grundlage solcher Überlegungen, die natürlich genauer ausgeführt werden müßten, ließe sich das etablieren, was im 1. Teil als anarchistische Kritik bezeichnet wurde, nämlich eine Kunst-, Literatur-, Theaterkritik usw., die ruhig aus stilistischen Gründen beispielsweise in der Attitüde unverbrüchlicher Wahrheit auftreten könnte, und von der dennoch jeder wüßte, daß sie nicht unverbrüchlich ist, ihre Maßstäbe gewissermaßen frei nach Tagesform wählen könnte, mit dem Ziel, gemeinsam mit anderen wie auch den Kritisierten ein Experimentierfeld zu betreten, um – beinahe möchte ich sagen: im »herrschaftsfreien Diskurs« – im argumentativen Schlagabtausch über die verschiedensten Themen zu menschlicheren, umweltverträglicheren, gottesfürchtigeren, vernünftigeren oder was immer Lösungen zu gelangen, ohne daß sich eine Position zur Institution aufzuschwingen vermag bzw. dies auch nur anstrebte. So ähnlich!

Die Dünnhäutigkeit der Theatermacher

Ein solches Kritikverständnis hülfe vielleicht auch gegen die Dünnhäutigkeit, mit der hierzulande gerne auf Kritik reagiert wird. Ein Wolfgang Schulz reagiert – seiner eigentlich unwürdig – auf eine Kritik an seiner Inszenierung der »Weibervolksversammlung« von Aristophanes mit einem Hausverbot für die Autorin der Kritik. Sie hatte in dem Stück – unsicher, ob von Aristophanes so angelegt oder von Wolfgang Schulz hineinübersetzt – eine Verhöhnung alter Menschen gesehen, was in der Tat den Verdacht nahelegte, daß sie die Struktur des Stückes nicht ganz verstanden hatte.

Andererseits muß man aber konstatieren, daß in einer Provinztageszeitung ein Stück wie die »Weibervolksversammlung« kaum noch erklärt werden kann. Daß es sich zunächst um einen Traum der Frauen handelt, der in einen Alptraum der Männer umkippt, die sich implizit der sexuellen Denunziation bedienen, um daraus erwachen zu können, ist schon reichlich verzwickt. Und Schulz machte es den Zuschauern dadurch nicht leichter, daß er sich mit dem Verweis nachempfundener Authentizität einer Sprache bedient, die für viele die Schockgrenze überschreitet. Es steht hier nicht dafür, zu beurteilen, ob er den Bogen überspannt. Nicht von der Hand zu weisen ist jedenfalls, daß er mit der rund 2500 Jahre alten Komödie (wenn es nicht schon antikes Agitprop-Theater ist) ein zeitgemäßeres Stück auf die Bühne brachte, als das mit nach heutigen Ohren hohlem Freiheitspathos fuchtelnde Trauerspiel »Kabale und Liebe«, dem – ebenso hohl – gesellschaftspolitische Bedeutung attestiert wird.

Tatsächlich scheinen die alten Griechen eine »Weiberherrschaft« ernsthaft gefürchtet zu haben. Das Thema taucht in vielen antiken Stücken auf bis hin zum »König Ödipus«, wo es um die Vorzüge eines patriarchalen Rechtssystems gegenüber eines matristischen geht. Anders bei Aristophanes: Er beschreibt zunächst offen und ehrlich die Mißstände der Männerherrschaft und die Vorzüge der Frauenherrschaft. Sie ist offensichtlich allein dadurch zu diffamieren ist, daß den Frauen unterstellt wird, der wirkliche Zweck ihres Kommunismus’ bestünde darin, auch im fortgeschrittenen Alter noch junge Männer ins Bett zu kriegen.

Vielleicht bedarf es ja wirklich drastischer Bühnenmittel, um bewußt zu machen, daß sich an der Technik der sexuellen Denunziation von weiblichen Führungspersonen nicht nur nichts geändert hat, sondern dies auch als weitgehend normale politische Auseinandersetzung gilt.
Nur ist – und dazu muß man Angela Merkel keineswegs als Kanzlerin wollen – ein Plakat mit ihrem Bild und der Überschrift »Das soll Kanzler werden?« kaum anderes als üble sexuelle Denunziation.
Die alten Griechen mögen dabei durchaus noch Grund gehabt haben, eine Weiberherrschaft zu fürchten. Wenn es nämlich stimmt, daß der Untergang von Mykene und anderer frühgriechischer Hochkulturen von eindringenden Nomadenstämmen verursacht wurde, die die männliche Einwohnerschaft ausrotteten und die Frauen versklavten; und wenn es weiter stimmt, daß sich diese durch kulturelle und zivilisatorische Verweigerung rächten, weshalb Griechenland über Jahrhunderte in dunkle Nacht versunken sein soll – wenn all dies stimmt, könnte das die Furcht vor den Frauen erklären. Ähnliches hat man jedoch heute von Angela Merkel sicherlich nicht zu fürchten, weil sie Frau ist. ¶