Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und im Ballsport
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Heinrich Füssli:
»Nachtmahr« (1802) – Ausschnitt

Exorzismus in Franken

Fremde Stimmen

von Manfred Kunz

Erinnert sich noch jemand an Anneliese Michel? Der »Fall« der Würzburger Studentin der Theologie und Pädagogik sorgte vor fast 30 Jahren für Schlagzeilen in ganz Unterfranken und darüber hinaus. Die junge Frau war damals, im Alter von 23 Jahren, am 1. Juli 1976 den Hungertod gestorben, nachdem zuvor, zumindest mit Billigung kirchlicher Institutionen, ein Exorzismus an ihr vorgenommen wurde.

Die Freilichtspiele der Stadt Freudenberg am Untermain haben den historischen Stoff der aus dem nur wenige Kilometer entfernten Klingenberg stammenden Studentin in ihrer Jubiläums-Spielzeit auf die Bühne gebracht. Autor Bernhard Setzwein hat das historische Material künstlerisch bearbeitet und vor dem Hintergrund der politischen und kulturellen Umwälzungen der 70er Jahre auf eine übergeordnete, allgemeine Ebene gebracht. So ist sein Stück »Fremde Stimmen« ganz bewußt keine Dokumentation, sondern eine Auseinandersetzung mit politischem und religiösem Fundamentalismus und Fanatismus. Und als solches von geradezu bestechender Aktualität.

Mutig – und wahrscheinlich bundesweit einmalig – ist es auch, solch ein zeit- und lokalgeschichtlich brisantes Thema einem eher komödiengewohnten Freilichttheater-Publikum zu präsentieren. Aber – aller im Vorfeld geäußerten Bedenken zum Trotz – das gewagte Konzept funktioniert.

Das liegt zuallererst an Setzweins zupackend-prägnantem, ganz und gar nicht voyeuristischem Text, und nicht zuletzt an der gleichermaßen schnörkellosen wie feinsinnigen Regie von Dominik Neuner. Mit Einblendung von O-Tönen aus Radio- und Fernsehsendungen illustrieren Stück und Regie trefflich die zeitgenössische Atmosphäre zwischen politischem Aufbruch und sexueller Befreiung auf der einen, sowie konservativer Beharrung und hysterischer Paranoia vor Terroristen auf der anderen Seite.
Die große Weltpolitik findet auch im fiktiven Städtchen Engelsbrunn am Untermain ihren Widerhall: von außen kommende »Fremde Stimmen« – szenisch umgesetzt durch umherschleichende historische »Dämonen« – kratzen an den festgefahrenen Gewohnheiten der Adenauerzeit. Kein Wunder, daß dabei ein sensibler Mensch – wie eben die historische Anneliese Michel – zwischen den widerstreitenden Kräften zerrieben wird.

Das Stück verweigert eindeutige Schuldzuweisungen, vermeidet jegliche Schwarz-Weiß-Zeichnung und bezieht doch eindeutig Stellung: gegen fundamentalistische Ideologien und radikalen Extremismus jeder Art. Wie kommt das Böse in die Welt, und in welcher Form drückt es sich aus? – das ist die hinter dem konkreten Fall liegende allgemein-philosophische Fragestellung. Der aus seiner Würzburger Zeit (unter der Intendanz von Achim Thorwald war er Oberspielleiter des Schauspiels) bekannte Regisseur Dominik Neuner lässt den Text mit viel Tempo spielen und macht das vordergründig schwierige Thema zum optischen Bühnengenuss: Rasant folgen die 24 Szenen, wechseln die Auftritte perfekt zwischen den sieben Schauplätzen, treffen aufwendige Kostüme und Masken genau die Zeitstimmung in einer Kleinstadt der 1970er Jahre, setzen Ton- und Lichteffekte immer wieder neue Akzente.

Diszipliniert und hoch konzentriert fügt sich das vielköpfige Amateur-Ensemble in Neuners bildmächtige Inszenierung. Herauszuheben als auffälligste Darsteller sind Festspielvereins-Vorsitzender Hartmut Beil als sensationsgieriger und karrieregeiler Chefredakteur einer Lokalzeitung, Simone Beil als seine Gegenspielerin und der wahrheitsgetreuen Aufklärung verpflichtete Redaktionspraktikantin Ulla Mende, sowie Susan Weißenborn und Peter Mayer als verzweifelte Eltern der toten Hilde Steffens. So zeigen die Freudenberger Burgfestspiele mit »Fremde Stimmen«, daß es möglich ist, mit schwierigen Themen auch beim Freilichttheater Erfolg zu haben.

Der historische »Fall Klingenberg« ...

Der Tod der 23-jährigen Studentin Anneliese Michel sorgte 1976 bundesweit für Schlagzeilen:
Die junge Frau fühlte sich vom Teufel besessen und war am 1. Juli 1976 gestorben – schlicht und einfach verhungert: nach monatelangen Qualen wog sie nur noch 31 Kilo und hatte mehr als 50 »Teufelsaustreibungen« (die Angaben schwanken zwischen 67 und 73) von zwei Priestern hinter sich. Später kam es in Aschaffenburg zur Anklage gegen die beiden Geistlichen und die Eltern wegen fahrlässiger Tötung. Der Prozess endete für alle vier Angeklagten mit jeweils drei Jahren Haft auf Bewährung.

Ob und in wieweit dieser Exorzismus mit Wissen und Billigung der Diözese Würzburg und des damaligen Bischofs Josef Stangl geschah, konnte ihm Verfahren nicht geklärt werden – ein Ermittlungsverfahren gegen den Bischof wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt – und ist bis heute umstritten. Die medizinische Diagnose von Nervenfachärzten hatte auf Epilepsie in Verbindung und Folge einer psychotischen Störung gelautet.

»Exorzismus« ist bis heute – wie jüngste Pressemeldungen in der SZ vom 18. Februar (»Teufel komm raus«) und der ZEIT vom 17. März (»Der Teufel wird diskriminiert«) diesen Jahres belegen – anerkanntes Ausbildungs- und Studienfach der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Das Fortbildungsangebot erfolgt sich großer Nachfrage: laut SZ hätten sich 120 Priester aus aller Welt für die Lehrveranstaltungen eingeschrieben.

... und die literarischen und künstlerischen Folgen:

Der »Engelforscher« Dr. Uwe Wolff fasste seine Rechercheergebnisse über die »letzte Teufelaustreibung in Deutschland« in dem bereits 1999 erschienen Buch »Das bricht dem Bischof das Kreuz« zusammen.
Der Schriftsteller und Dramatiker Bernhard Setzwein, geboren 1960 in München, hat den Fall als Folie für sein Theaterstück »Fremde Stimmen« verwendet. Es entstand als Auftragsproduktion des Burgschauspielvereins für die diesjährige 10. Spielzeit, wurde am 24. Juni 2005 uraufgeführt und war im Juni und Juli acht Mal auf der Freilichtbühne der Burgruine Freudenberg zu sehen.
Eine weitere künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema ist für den Herbst angekündigt. Vorrausichtlich am 24. November hat der Film »Requiem« von Hans-Christian Schmid (»Nach fünf im Urwald«, »Lichter«, »Crazy«) Kinostart. Schmid stellt die historischen Ereignisse ins Zentrum seines Films, modifiziert aber Schauplatz und Zeit. ¶