Nummer – Zeitschrift für Kultur in Würzburg und New York
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Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

Liebet zuvörderst die Gerechtigkeit

Was veranlaßt eine hübsche, junge Frau, ihre Hand lächelnd in den Rachen eines Löwen zu legen? Boccaccio erzählt diese Geschichte, und Cranach hat die Szene gemalt. Es geht dabei um den »Mund der Wahrheit« – beißt der Löwe zu, ist die Probantin der Untreue überführt, bleibt er brav, gilt das als Beweis der Unschuld.

Dem heutigen Betrachter sind solche Motive kaum noch verständlich. Die Themen Recht und Gerechtigkeit spielten in der Kunst vergangener Epochen eine große Rolle, und auch in der Gegenwart wird – wie das Beispiel des Würzburger »Justiz-Männleins« nachhaltig belegt – lebhaft über die Visualisierung des Phänomens Recht disputiert. Mehr oder weniger kompetente Berichte, Kommentare sowie eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Leserbriefen pro und contra Justiz-Männlein füllten im Februar 2005 die Tageszeitungen. Sogar den Künstler ließ man zu Wort kommen. Die parallel diskutierte Frage, ob der Bischof einen nackten Christus aus dem Museum am Dom entfernen dürfe, geriet ob des Streits um das Männlein in den Hintergrund.

Die Debatten um die Männlichkeit des Erlösers wie um jene der auch »Justitius« genannten Plastik im Umfeld des neuen Würzburger Justizzentrums weisen eine erschreckende Gemeinsamkeit auf: Sie frappieren durch Intoleranz und Unkenntnis kunst- und geistesgeschichtlicher Grundlagen. Wer sich je ernsthaft mit Michelangelo beschäftigt hat, braucht nicht prüde an der Nacktheit einer Jesus-Darstellung herumzumäkeln. Und wer seinen Blick auf die Historie der Rechtsvisualisierung lenkt, erkennt rasch, daß Würzburg mit Thaddäus Hüppis »bunter und clownesker Justitia-Figur« (O-Ton Volksblatt) zum Schauplatz einer klassisch zu nennenden Provinz-Posse geworden ist.

Eine fundierte Auseinandersetzung mit Hüppis Werk sollte vom Ansatz ausgehen, wie es gestaltet wurde, was es auszusagen vermag, wie es der Künstler selbst und die unterschiedlichen Rezipienten (richtig oder falsch) interpretieren, ob es in einer Tradition steht oder bewußt mit ihr bricht. Muß Kunst provozieren, um überhaupt wahrgenommen zu werden? Darf Kunst entsorgt werden, wenn sie Widerspruch erregt?

Bereits die Antike kannte allegorische Figuren wie Dike, Themis und Nemesis, die den Gedanken des Rechts symbolisierten. Später stößt man allenthalben auf Bilder, die Christus als Weltenrichter zeigen, auf Darstellungen des Salomonischen Urteils sowie auf Justitia, die am weitesten verbreitete Allegorie der Gerechtigkeit.

Die Moderne ist gekennzeichnet durch einen Paradigmenwechsel: Daumier geißelte mit seinen Karikaturen die negativen Seiten, den Mißbrauch der Rechtsprechung, die Künstler befassen sich nun mit dem Unrecht, etwa René Magritte mit seinem »Der bedrohte Mörder«, Picasso mit »Guérnica«, John Heartfield lieferte die bitterböse Fotomontage »Der Henker und die Gerechtigkeit«.

Der gebildete Betrachter von einst hatte kein Problem, auch kompliziertere Bildprogramme zu entschlüsseln. Spannend wird es bei Lorenzettis Fresken im Palazzo Pubblico in Siena aus den Jahren 1338/39. Zentrale Figur der als Warnung an die Ratsherren zu interpretierenden »Schlechten Regierung« ist eine Tyrannia mit Teufelshörnern, Reißzähnen und dümmlichem Silberblick.
Um sie herum hat der Künstler die Laster versammelt: die Grausamkeit, welche ein Kind erwürgt, den Verrat, den Betrug, die Wut, Zwietracht sowie die Personifikation des Krieges. Um das Haupt der Tyrannia sind drei weitere Gestalten: Geiz, Hochmut und Eitelkeit.

Zu Füßen dieser unseligen Versammlung lagert traurig eine blonde Frau in weißem Gewande, die Hände im Schoß überkreuzt: Justitia; ihrer zerstört am Boden liegenden leeren Waage beraubt. Bei der »Guten Regierung« hingegen thront Justitia neben dem Regenten, über ihr Sapientia, die Heilige Schrift und die Waage in Händen, deren Schalen Justitia im Gleichgewicht hält. Ohne Zweifel haben die Auftraggeber das Bildprogramm vorgegeben, welches auf die Aristoteles-Kommentare Thomas’ von Aquin zurückgeführt werden kann. Wichtig auch die Arbeit »De iustitia« des Dominikaners Remigio de’ Girolami und die Salomonische Weisheit aus dem »Liber sapientiae«, die als Schriftzug die Gestalt der Gerechtigkeit rahmt: »diligite iustitiam qui iudicatis terram«, also: »Liebet die Gerechtigkeit, ihr, die diese Welt regiert!« – ein Satz, den Dante im »Paradies« erneut aufgriff: »diligite iustitiam primai.« (»Liebet zuvorderst die Gerechtigkeit!«)

Vorbei die Zeiten, als Eunomia, die Gesetzlichkeit, an deren Knie die Gesetzestafeln lehnen, sich einer gewissen Bekanntheit zu erfreuen vermochte, in Vergessenheit geraten das »Auge der Wachsamkeit«. Justitia mit Augenbinde, Schwert und Waage hat mittlerweile ebenso ausgedient wie Tugend- und Laster-Allegorien.

Die Kunst der Moderne geht andere Wege. Gustave Courbet verzichtete 1870 darauf, mit dem Orden der Ehrenlegion geehrt zu werden und schrieb dem Ministerium: »Der Staat ist nicht zuständig in Sachen der Kunst. Seine Einmischung ist unheilvoll …« und führt – angesprochen ist die akademische Monumentalkunst der Zeitgenossen, wie sie auch in den Justizpalästen des 19. Jahrhunderts anzutreffen war – zur »unfruchtbarsten Mittelmäßigkeit«. So nimmt es nicht Wunder, daß es in Wien zum Skandal kam, als Gustav Klimt 1892 ein innovatives ikonographisches Programm für die Decke der Universitäts-Aula vorlegte. Ziel war die allegorische Darstellung der vier Fakultäten. Sein monumentales Plafondgemälde zum Thema Recht präsentierte einen nackten, ausgemergelten Alten als Angeklagten, als armen Sünder mit tief gesenktem Kopf und gekrümmten Rücken. Um ihn schlägt ein Polyp – Symbol des Gewissens – die Fangarme, der Mann erscheint als unrettbar Verurteilter, der darüber hinaus noch von »drei körperlosen Gespenstern gequält« wird, die ein Kritiker als »Lemuren des 20. Jahrhunderts« bezeichnete. Darüber sah man drei Frauengestalten als Allegorie der Gerechtigkeit zwischen Gesetz und Wahrheit, hinter denen die Richterschaft erschien. Karl Kraus bemängelte, Klimt »wollte die Jurisprudenz malen und hat das Strafrecht symbolisiert«.

Rasch formierte sich Widerstand, man stellte sich gegen die avantgardistischen Bilder. Knapp 90 Professoren unterschrieben eine Petition gegen die neue »Bildsprache«; in der Begründung hieß es: »Wir kämpfen nicht gegen die nackte und gegen die freie Kunst, sondern gegen die häßliche«. Die »Artistische Kommission« der Universität Wien lehnte die Bilder 1905 endgültig ab.

Kommt uns das nicht irgendwie vertraut vor?

Die heutige Künstlerschaft zeigt sich vom Thema Recht relativ unbeeindruckt, sieht man von den lukrativen »Kunst am Bau«-Wettbewerben ab, bei denen es in der Bundesrepublik Deutschland immerhin um 0,5 bis 2 Prozent der Bausumme geht.

Beispiel Düsseldorf: Dort fand 1958 ein Wettbewerb zur Gestaltung des Justiz-Hochhauses statt, an dem Joseph Beuys mit der Skulptur »Justitia/Sybilla« teilnahm. Er verschmolz Konzepte und Motive unterschiedlicher Traditionen, indem er Assoziationen zu Seher-Kugeln und der Waage der Justitia herstellte. Das Vorhaben wurde seinerzeit (man ist geneigt zu sagen: »natürlich«) nicht verwirklicht. Güsse der Skulptur befinden sich im Museum Ludwig in Köln und im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Im Oberlandesgericht Düsseldorf erinnert immerhin eine Fotografie an das Werk.

Der israelische Künstler Dani Karavan, Peter Weibel und Jochen Gerz greifen bei unserer Thematik auf das Medium Sprache zurück. Der 1963 entworfene Innenhof des Justizgebäudes in Tel Aviv war Karavans erster Versuch eines »totalen Ambientes«. Unter anderem präsentiert es einen Block in Form eines dicken, entrollten Pergaments, in das die Verse des 21. Kapitels des zweiten Buches Mose eingraviert sind, die von den Gesetzen handeln.

Ähnlich verfuhr der Künstler bei seiner »Straße der Menschenrechte« beim Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Auf Betonpfeilern kann der Betrachter die Kurzfassung der 20 Artikel der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 lesen, und zwar in den unterschiedlichsten Sprachen und Schriftformen.

Weibels »Das Recht mit Füßen treten« entstand 1993. Die Installation zeigt an einer Wand die Grundformen der Bauhaus-Geometrie – Quadrat, Dreieck und Kreis – sowie auf dem Boden angeordnete Platten, welche die Aufschrift »Recht« tragen. Der Betrachter wird beim Begehen genötigt, »Recht« mit seinen Füßen zu treten. Erstmals visualisierte Weibel diesen Gedanken im Mai 1968; gemäß dem seinerzeit virulenten »anarchischen Aktionismus« wurde der Besucher zum Akteur, der über die damals mit Kreide auf den Boden geschriebenen Worte des »Text-Environment« zu trampeln hatte.

Weibel ist auch am derzeit im Entstehen begriffenen Karlsruher »Platz der Grundrechte« beteiligt, dessen Realisierung in den Händen des Aktionskünstlers Jochen Gerz liegt. Dieser sammelte 48 Aussagen zum Begriff Recht, welche auf Straßenschildern erscheinen sollen. Als Interviewpartner dienten ihm neben Peter Weibel der Philosoph Peter Sloterdijk, die ehemalige Bundesverfassungsgericht-Präsidentin Limbach, andererseits auch ein Strafgefangener. In der reinen Textualisierung findet man so trivial wirkende Aussagen wie »Ihrem Wesen nach sehnt sich die Gesellschaft nach dem Recht«. Als Standorte sind das BVG sowie der BGH vorgesehen, der Ort, an dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 einem Terroranschlag zum Opfer fiel, der Schloßplatz, auf dem 1767 die Aufhebung der Folter verkündet wurde, sowie ein Gelände, auf dem 1844 die letzte Hinrichtung in Karlsruhe vollzogen wurde.

Weitere Beispiele zeitgenössischer künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Thema Recht: Im Regensburger Schwurgerichtssaal erstreckt sich hinter der Richterbank eine von Astrid Schröder gestaltete, leicht gekrümmte Wand. Sie besteht aus gut 45 000 senkrecht verlaufenden Linien unterschiedlicher Gelbtöne. Aus der Entfernung wirkt die Komposition wie eine strukturierte Fläche, doch aus der Nähe werden die Unterschiede deutlich. Die Süddeutsche Zeitung spekulierte darüber, ob die Jury an »Parallelen zur Arbeit der Justiz« dachte: »Von außen erscheint die Behörde als geschlossenes Ganzes, bei näherer Betrachtung aber geht es um Einzelfälle – um Menschen, Verbrechen, Streitfälle, Anklagen und Urteile.«

In einem weiteren Saal findet sich ein fotorealistisches Gemälde, das eine Bergkiefer vor hellblauem Himmel zeigt, möglicherweise eine Anspielung auf die bekannte Metapher »Über dem Landgericht wölbt sich nur der blaue Himmel« – sprich: Hier befindet sich die letzte Instanz, der Himmel ist rechtsmittelfrei.

Blicken wir auf die Ausstattung des Bundesjustizministeriums in Berlin: Ziel eines Wettbewerbes war es, die Verkündung der Reisefreiheit für DDR-Bürger am 9. November 1989 zu würdigen und zu interpretieren. Der Ort, der Konferenzsaal, ist nicht mehr erhalten, gleichwohl soll im ehemaligen Eingangsbereich des internationalen Pressezentrums der DDR an das historische Ereignis erinnert werden. Im Mai 2000 entschied sich das Preisgericht für eine Arbeit von Ulrich Schröder, da sie »die Bedeutung der Geschehnisse mittels klarer, nachvollziehbarer Symbolik vermittelt«. Sie besteht aus 30 leicht schäbig anmutenden Stühlen auf einer begrenzten schiefen Ebene (Situation der Pressekonferenz!) sowie einem Plasmabildschirm, auf welchem Meereswellen zu betrachten sind; sie wurden als »Versprechen von Unbegrenztheit und Freiheit« oder als »Bild der Zukunft« interpretiert.

Welche Erwartungen an heutige Kunst am Bau geknüpft werden, verdeutlicht aktuell das Würzburger Strafjustizzentrum. Auf der Basis offizieller Verlautbarungen berichtete eine Lokalzeitung ausführlich und mit Bild über die Entscheidung des Wettbewerbs, bei dem es um ein Volumen von 100 000 Euro geht. Den ersten Preis erhielt die Arbeitsgemeinschaft Christian Hörl, Waltraud Funk und Gerhart Kindermann für eine Komposition, die wie folgt beschrieben wird: »Mehrere massive, schubladenartig aus der Wand austretende Acrylglas-Bildtafeln werden an den Sichtbetonwänden im Eingangsbereich und gegenüber den Sitzungssälen installiert«. Anschließend kommt Hörl selbst zu Wort: Man sehe Fotografien »von Alltagssituationen des Lebens, aus denen Konflikte entstehen, die dann im Gericht erörtert werden.« Dies geschehe in drei Ebenen mit als Dias erscheinenden Landschaftsbildern aus Würzburg und der Umgebung, »aus Details, zum Beispiel Zahnputzbecher, und Ebene drei zoomt Details zu Form und Farbe«. Die »Dreidimensionalität der Dias soll die Dreidimensionalität des Gerichtes wiedergeben. Jeder betrachtet die jeweils zu verhandelnde Situation aus einer anderen Perspektive«. Der zweite Preis wurde für eine Arbeit vergeben, die den »Lebensweg« symbolisiere, der stets etwas mit Hoffnung zu tun habe; einen dritten Preis billigte die Jury Glasplatten »in Form von Rechtswegen – schiefe Bahn, fester Tritt« zu.

Aus all diesen Beispielen vermag man deutlich zu erkennen, daß Figuratives bei der Justiz kaum mehr gefragt ist. Mit dem Siegeszug der Abstraktion und Gegenstandslosigkeit ging die Diffamierung des im Nationalsozialismus wie in den Ländern des Ostblocks politisch mißbrauchten Realismus einher. Auf der Tagesordnung stehen mittlerweile offensichtlich der Unverbindlichkeit verpflichtete Werke, denen mitunter mit rhetorischer Akrobatik und wortreicher Argumentationspoesie konstruierte Sinnzusammenhänge beigefüttert wurden. Stets scheint das höchste Ziel zu sein, den Schatten der Kunstgeschichte zu fliehen und um jeden Preis »innovativ« zu erscheinen. Fragen der menschlichen Existenz in all ihrer Gefährdung klammert man möglichst aus, man bevorzugt – darin durchaus vergleichbar gewissen Tendenzen der dem Sakralen gewidmeten Kunst – symbolisch aufgeladene Farben und Formen.

Warum dieser Paradigmenwechsel? Schließen die verantwortlichen Jurys reflektierendes Verständnis der Rezipienten bei figürlicher Kunst a priori aus? Hält man den heutigen Betrachter – ketzerisch gefragt – gar für un-»gebildeter« als vergangene Generationen? Allegorien werden für unzeitgemäß und unzumutbar gehalten, werden in einer multikulturellen Gesellschaft längst nicht mehr von allen entschlüsselt. Die logische Folge sind Werke, die als »l’art pour l’art« funktionieren wollen und sollen, statt wie früher die Auseinandersetzung mit Grundwerten der Philosophie, der Mythologie, des Glaubens anzustreben.

Darf, ja muß man hier von einem Iconic turn sprechen? Sicher ist eines: Allegorische Figuren haben weitgehend ausgedient. Mag die Justiz immun gegen tradierte Formen der Rechtsvisualisierung geworden sein, so finden sich doch immer noch Künstler, welche über die Darstellung reiner Körperlichkeit wie über psychologische Ausleuchtung weit hinaus zielen.

Zu ihnen zählt der in Baden-Baden lebende Künstler Thaddäus Hüppi, Schöpfer des eingangs erwähnten »Justiz-Männleins«. Seine bunte, bemalte Bronzeplastik sorgte für Schlagzeilen, Leserbriefe und letztlich für ein Machtwort des Gerichtspräsidenten, der das Kunstwerk nach nur 13 Tagen entfernen ließ.

Hüppi wurde 1963 in Hamburg geboren. Er absolvierte eine Lehre als Bau- und Möbelschreiner, dann folgte ein Studium an den Hochschulen für Bildende Künste in Hamburg und Frankfurt a. M. Er fertigt Skulpturen, die »aus der Realität hinausweisen und stets schmeichlerisch schön, pastellig und lieb wirken. Er hat dabei den Wurzelgeist, das Gnomgesicht, die Sockelfigurine, den Brunnen und den Wasserspeier neu erfunden, skulptierbare Motive, die gegenwärtig kaum mehr gewagt werden können, weil sie so gegensätzlich zum rationalen Denken sind«, wie Susanne Titz in einem Katalogtext (Quelle: Internet) schrieb.

Als Reaktion auf das unglücklicherweise gegen Ende der Faschingszeit aufgestellte »Justiz-Männlein« war eine Reihe von Leserbriefen zu verzeichnen, darunter einer in der für Büttenreden typischen Reimform. Man diffamierte das Kunstwerk als »Symbolfigur für die Fasenacht« und als »Kasper des Hochbauamtes«. Das Volksblatt titelte kurz vor Ablauf der sogenannten fünften Jahreszeit »Justitia auf Faschingstour«.

Stein des Anstoßes ist eine farbig gefaßte Bronze von etwa einem Meter Höhe, welche eine rotwangige Figur in blauweiß kariertem Kostüm vorstellt, die in der einen Hand eine Kugel und in der anderen ein Ei balanciert.

Was von besorgten Lesern für einen Faschingsscherz gehalten wurde, entpuppte sich rasch als Bestandteil der »Kunst am Bau«-Maßnahmen. Die Mehrheit einer neunköpfigen Jury hat sich für Hüppis Werk ausgesprochen, der in einem Zeitungsartikel ausführlich zitiert wird: »Einerseits greift die symbolische Geste der Figur jene der blinden Justitia auf, die unbeeinflußt ›gerecht‹ – also mit verbundenen Augen – abwägt, andererseits sehen wir eine Figur, die mit sehendem Auge Ei und Weltkugel gegeneinander ausspielt: Wer sieht, entdeckt die Welt, wie Kolumbus mit seinem Ei die Kugelgestalt der Welt verdeutlichte und das Zeitalter der Moderne einläutete. Und eine moderne Justiz muß die Augen offen halten für alle Umstände, Einflüsse und Zustände, um Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Insofern macht die scheinbar heitere Figur fragen, ob Blindheit ein Kriterium für Gerechtigkeit sein kann.«

Den Leserbriefen vermochte man durchaus ernstzunehmende Argumente, aber ebenso hanebüchenen Unfug zu entnehmen: »Das bunte Männlein erfüllt aber eine wesentliche Aufgabe von Kunst: Es regt an, regt auf, provoziert« heißt es unter Bezugnahme auf Theodor W. Adornos Forderung, Kunst müsse Chaos in die Ordnung bringen. »Endlich einmal eine moderne Betrachtung der Recht sprechenden Gewalt« äußerte ein anderer Schreiber, dem »ein bunter Blickpunkt das Gemüt erfreut und erheitert«. Interessant ist folgende Interpretation: »Ein Gerechtigkeitsfinder, der nicht mit Blindheit geschlagen ist. Ein Justus, der mit den Argumenten der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung jongliert. Ein Suchender, der die Augen aufreißt und die Ohren aufsperrt …«. Ein gewisser Frust gegenüber der Justiz spricht aus der Leserzuschrift, in der man liest: die »der Politik hörige (große Ohren) Hampelfrau, die sehenden Auges mit ihrer zurechtgebogenen Denkweise (Kopfschmuck)« eiere »derart herum (linke Hand), daß sie sich eigentlich nur noch die Kugel geben kann (rechte Hand).«

Auf die üblichen kunstfeindlichen Attacken, Bezugnahmen auf die Faschingszeit und das beliebte »Argument« von der »Verschleuderung von Steuergeldern« lohnt es sich hier ebensowenig einzugehen wie auf vorgeblich leserorientierte Kommentare der Tagespresse. Letztere offenbarte gar ihr Demokratie- und Kunstverständnis mit einer Umfrage im Internet: Über die Hälfte der Teilnehmer sprach sich dabei für eine Entfernung der Plastik aus. Der künstlerische Stellenwert des Objektes wurde nicht hinterfragt.

Bei aller Wertschätzung der Kunst sollte man die Entscheidung des Gerichtspräsidenten respektieren, der sich auf die öffentlich geführten Angriffe zu reagieren genötigt sah. Es soll nun ein anderer Platz für Hüppis Arbeit gefunden werden, nachdem Personalvertretung sowie Staatsanwaltschaft sich Hohn und Spott ausgesetzt fühlten. Die Würde des Gerichts sei durch das Kunstwerk verletzt worden, der Anblick der bunten Plastik weder der Rechtssprechung noch der von ihr berührten Öffentlichkeit zuzumuten.

Wie dem auch sei: Der Künstler Hüppi zeigte sich ob des rigiden Umgangs mit seinem Werk »entsetzt und enttäuscht«. Seine Arbeit folgt konzeptionell der Linie eines Jeff Koons oder Paul McCarthy und erinnert ein wenig an Niki de Saint Phalles »La Justice« von 1990 im Sprengelmuseum Hannover; dort lästert niemand über die polychrome Polyesterfigur, welche das klassische Attribut der Waage variiert, indem die Brüste in Schalen verwandelt wurden.

Mit einem neuen Aufstellungsort der Hüppi-Plastik werden sich die Wogen glätten. Vorläufig. Es ist nämlich zu befürchten, daß mit der demnächst im Würzburger Justizzentrum installierten, oben beschriebenen Kunst am Bau aufs Neue das Geschrei um »Verschwendung von Steuermitteln« und die in »unseren schweren Zeiten« für entbehrlich gehaltene Kunst ertönt.
Josef Kern